Mit Davidsternen markierte Häuser und Beleidigungen oder Faustschlägen ins Gesicht gegen Israel-Flaggen auf Balkonen: Antisemitische Vorfälle haben seit dem 7. Oktober massiv zugenommen. 994 hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) dokumentiert. Durchschnittlich sind das 29 Vorfälle am Tag, 2022 waren es im Mittel noch sieben, teilte die Organisation am Dienstag in Berlin mit.
Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, findet die Zahlen erschreckend, aber nicht verwunderlich. Der Deutschen Presse-Agentur sagte sie: "Junge Jüdinnen und Juden berichten seit dem 7. Oktober ununterbrochen, wie stark der Antisemitismus, den sie in ihrem alltäglichen Leben wahrnehmen, vor allem im universitären Kontext, zugenommen hat."
Hintergrund der meisten Antisemitismus-Vorfälle ist unbekannt
Die Mehrheit der Taten (62 Prozent) kann dabei keinem spezifischen Hintergrund zugeordnet werden. In 21 Prozent der Fällen spiele anti-israelischer Aktivismus eine große Rolle. Davon spricht Rias beispielsweise, wenn auf Demonstrationen das Existenzrecht des Staates Israel geleugnet wird, mit Parolen wie "From the River to the Sea" (mehr Hintergrund lesen Sie hier).
Andere Vorfälle haben einen islamisch oder islamistischen Hintergrund (6 Prozent), kommen aus der linken oder anti-imperialistischen Szene (5 Prozent) sowie aus dem verschwörungsideologischen oder rechtsextremen Milieu (jeweils zwei Prozent). Die Meldestelle erfasst auch Vorfälle in Form von Beleidungen, Schildern und ähnlichem, die mehrheitlich bei antisemitischen Versammlungen beobachtet werden.
Dass extreme Gewalt mit drei Vorfällen seit dem 7. Oktober vergleichsweise selten vorkommt, macht sie für Einzelpersonen und die jüdische Community jedoch nicht ungefährlicher. Als Beispiel nennt Rias den 18. Oktober. Damals wurden Brandsätze auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Berlin geworfen, in dem sich auch eine Synagoge, eine Schule und eine Kita befinden.

Forscher fordert mehr Aufklärung
Laut dem Bericht passe die Anzahl der Taten in etwa zum Zeitgeschehen. So habe es beispielsweise nach der Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza am 17. Oktober vermehrt antisemitische Versammlungen gegeben, ebenso wie nach Gedenk-Veranstaltungen am 9. November zur Reichsprogromnacht. Auch Desinformation in sozialen Medien mobilisiere die Menschen.
Rias ist nicht der einzige Verband, der vermehrt antisemitische Taten erfasst. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) beobachtet eine Häufung antisemitischer Straftaten. Auf seiner Herbsttagung vor wenigen Tagen sprach das BKA von 680 antisemitischen Straftaten – deutlich mehr als sonst. BKA-Präsident Holger Münch nannte die Entwicklung "besorgniserregend, weil wir nicht wissen, wo es hingeht".

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Der Extremismusforscher Ahmad Mansour warnte im Gespräch mit der DPA deshalb vor einer zunehmenden Radikalisierung, sowohl bei Rechtsextremen als auch im islamistischen Mileu. Auf Plattformen wie Tiktok erreicht die Propaganda auch viele junge Menschen. Deshalb müssten diese sozialen Medien gezielter zur Aufklärung genutzt werden, so Mansour. Das Internet sei ein "sehr wichtiger Ort, wenn man bedenkt, dass Jugendliche und auch Erwachsene mehrere Stunden pro Tag ihre Infos von dort holen".
Weitere Quellen: RIAS, Bundeskriminalamt, mit Informationen der Agenturen