"Deutschland ist nun offiziell im Krieg", erklärt ein Mann in dunklem T-Shirt mit ernstem Blick. Die Hisbollah habe vor der Küste Libanons ein Schiff angegriffen, auf dem auch Bundeswehrsoldaten stationiert seien. Damit sei Deutschland nun offiziell Kriegspartei. Der Mann zitiert zwar Ausschnitte aus einem Artikel des NDR, fragt dennoch rhetorisch in die Kamera: "Wie kann es sein, dass wir darüber nichts erfahren? Warum hält der Kanzler keine Rede an die Nation?" Bis auf den NDR fände man auch nichts dazu in den Medien. Es werde strategisch verschwiegen, dass bereits Bundeswehrsoldaten im Nahen Osten kämpfen – und das, obwohl das "deutsche Volk" keinen Krieg wolle.
Das Video ist nur eines von Tausenden, die sich derzeit auf Tiktok finden. In vielen Kommentaren sorgen sich Nutzer, dass es nun auch zum Krieg in Deutschland kommen werde – und dass, obwohl die Erzählung mindestens irreführend ist.
Der Angriff hat tatsächlich stattgefunden. Ebenso stimmt es, dass deutsche Soldaten an Bord der Korvette "Oldenburg" waren, die am 15. Oktober mutmaßlich von der Hisbollah unter Feuer genommen wurde. Was der Mann, der so informiert und seriös wirkt, aber verschweigt, ist, dass das Schiff im Rahmen einer UN-Blauhelmmission vor der Küste Libanons kreuzt. Die Friedenstruppen sollen den Seeraum überwachen und bei der Ausbildung von libanesischen Einheiten helfen. Dass Deutschland durch den Angriff Kriegspartei ist, stimmt schlichtweg nicht. Einen Zusammenhang zwischen Angriffen der Hisbollah auf UN-Blauhelmtruppen und dem Krieg zwischen Israel und der Hamas gibt es nicht. Er wird aber suggeriert.
Deutsche Influencer verbreiten gezielt Verschwörungserzählungen auf Tiktok
"Es ist ein klassisches Phänomen der Desinformationsverbreitung, bei der es nicht zwangsläufig darum geht, wirklich jemanden von meiner Meinung zu überzeugen, sondern Leute oder ganze Gesellschaften zu irritieren, zu verunsichern", erklärt Marcus Bösch im Gespräch mit dem stern. Er ist Medienwissenschaftler an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und forscht zu Desinformationskampagnen in Online-Medien – insbesondere auf Tiktok.
Häufig wird bei den Videos auf den ersten Blick nicht deutlich, wer da eigentlich auf dem Bildschirm zu sehen ist und "brandheiße News" verbreitet. Erst bei einem genaueren Blick auf das Profil dieser Nutzer wird deutlich, dass sie wenig bis keine Expertise auf dem Gebiet des Nahostkonflikts haben. Die vermeintlichen "Nachrichten" sind konstruiert, aus dem Zusammenhang gerissen oder gar erfunden.
Dennoch werden die Videos tausendfach angesehen, geliket, geteilt und kommentiert. Für Bösch ist diese Situation nicht verwunderlich: "Es geht um Vertrauen – und Creatorinnen und Creator, die jahrelang auf der Plattform aktiv sind, stehen in diesem Kosmos auf der gleichen Stufe wie traditionelle Medien, wenn nicht höher – auch wenn sie zunächst nicht als Experte in einem Themengebiet erscheinen."
Zudem sei die Ansprache auf Tiktok roher, schneller und direkter als auf anderen Netzwerken, so Bösch. Die Plattform gibt qua ihrer Struktur also ein Versprechen, das sie in den wenigsten Fällen halten kann: Ein komplexes Thema wie der Nahostkonflikt soll in Videos erklärt werden, die meist nur zwischen 15 und 60 Sekunden lang sind.
Vom Erklären der Bodenoffensive zu bretthartem Antisemitismus in 58 Sekunden
In den meisten Fälle blicken die Protagonisten direkt in die Kamera, die Schnittfolge ist schnell, vermeintliche "Fakten" prasseln im Sekundentakt auf den Zuschauer ein – oftmals so schnell, dass es kaum auffällt, dass sich eine ganze Argumentation auf nicht belegte Behauptungen stützt. Dabei werden klassische Muster von Verschwörungstheorien genutzt: Ein Funken Wahrheit wird innerhalb von Sekunden so sehr verdreht und interpretiert, dass sich daraus eine ganz neue Erzählung ergibt, begleitet von Aufforderungen an den Zuschauer, "aufzuwachen" oder "selbst nachzudenken".
Deutschland "steht fest an der Seite Israels". Wie sieht es im Rest der Welt aus?

Der irische Außenminister Micheál Martin (Foto) forderte einen humanitären Waffenstillstand und sagte, das Leid unschuldiger Zivilisten habe ein Ausmaß erreicht, das eine sofortige Einstellung der Kämpfe erfordere.
Ein Beispiel hierfür ist ein Video eines Nutzers, der bis zum Überfall der Hamas Anlagetipps für Kryptowährungen gegeben hat. Er beginnt seinen Clip damit, dass Israels Bodenoffensive begonnen hat – und verspricht zu erklären, was dies bedeute. Er bezeichnet diesen Vormarsch als Invasion Israels und behauptet, dies sei nur der Anfang. Es folgen hanebüchene Erklärungen zu dem, was dort gerade passiert: Alles habe mit allem zu tun. Der Angriff der Hamas sei wahlweise von Israel inszeniert, gewollt oder sogar unterstützt, um den Gazastreifen bombardieren zu können. Angeleitet werde Israel angeblich von der US-Regierung, die wiederum durchsetzt sei von Juden, die an dem Krieg Geld verdienen und gleichzeitig davon träumten, dass Israel den gesamten Nahen Osten einnimmt und vorwiegend muslimische Länder unterjocht. Innerhalb von 58 Sekunden entwickelt sich so ein Erklärvideo zu Israels Bodenoffensive zu bretthartem Antisemitismus.
Marcus Bösch: "Ich würde die Medienkompetentenz junger Leute nicht unterschätzen"
Besonders problematisch kann das mit Blick auf die sehr junge Zielgruppe sein, die die App anspricht. Schon während des Ukraine-Kriegs warnten viele Experten davor, dass Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren durch Propaganda und Fake News beeinflusst werden könnten. Bösch ist hier zurückhaltender: "Ich würde da nicht so einseitig schwarzmalen und die Medienkompetenz junger Leute nicht unterschätzen. Sie verbringen viel Zeit auf der Plattform und haben dementsprechend zumindest in Teilen eine gewisse Kompetenz, welche Informationen stimmen könnten und welche nicht."
Warum aber teilen so viele Nutzer auf Tiktok Videos, in denen Halbwahrheiten, Verschwörungen oder schlicht Lügen verbreitet werden? Es sei wichtig zu sagen, dass nicht jeder, der falsche Informationen teilt, per se eine bösartige Täuschungsabsicht habe, vielleicht sogar im Gegenteil, Leute informieren wolle, so Bösch.
"In der Wissenschaft differenziert man zwischen Des- und Missinformation. Desinformationen haben eine bewusste Täuschungsabsicht. Bei Missinformationen teile ich etwas, von dem ich denke, die Welt muss es erfahren – nicht, weil ich jemanden betrügen will, sondern weil ich es wirklich glaube", so der Medienwissenschaftler. Ein Phänomen, das man auch in der analogen Welt beobachten kann: "Ich erinnere an jeden beliebigen Stammtisch: Auch dort werden teilweise falsche Dinge erzählt. Und wenn ein Fußballspiel stattfindet, haben wir plötzlich 80 Millionen Bundestrainer – auch die haben nicht alle Expertise auf dem Gebiet."
Deutlich unwahrscheinlicher ist ein finanzielles Interesse der Influencer, die Fake News verbreiten. Anders als etwa auf Instagram oder Facebook ist es derzeit auf Tiktok nicht einfach möglich, die große Reichweite, die Videos zum Nahostkonflikt erreichen können, in Geld umzuwandeln.
Nichtsdestotrotz steht Tiktok schon seit Jahren in der Kritik, nicht genug gegen Fake News zu unternehmen. "Wenn der Tiktok-Deutschland-Chef sagt, 97 Prozent aller Inhalte werden gelöscht, bevor sie jemand sieht, klingt das sehr vertrauenswürdig, aber es lässt sich nicht unabhängig überprüfen", erklärt Bösch. Viele Videos würden, obwohl sie gemeldet werden und offensichtlich gegen die Community-Guidelines verstoßen, nicht von Tiktok gelöscht, das sei sicherlich ein Manko. Es gebe Untersuchungen, wonach ein Viertel aller Posts auf Tiktok falsche Informationen beinhalten. "Ich wäre aber bei diesen pauschalen Zahlen vorsichtig, auf Grund der sehr individuellen Nutzungserfahrung der User", so Bösch.
Der Algorithmus von Tiktok ist so berühmt wie berüchtigt. Er lernt schnell, was seine Nutzer bewegt. Bei sehr jungen User kann das zum Problem werden, weil sie unmittelbar mit unangemessenen oder beeinflussenden Inhalten konfrontiert werden können. Viele Teenies verbringen mehrere Stunden am Tag auf der Plattform – genug Zeit also, damit auch Falschmeldungen wirken können, wenn sie immer wieder in den Feed gespült werden.
Bösch appelliert deshalb insbesondere an Eltern, mit ihren Kindern über den Tiktok-Konsum und die Inhalte zu sprechen. "Wenn ein 13-Jähriger stundenlang unbeobachtet sein Smartphone nutzen kann, dann gibt es definitiv andere Probleme als den Tiktok-Algorithmus. Das sollte in einer Familie nicht der Fall sein. Da sind Erziehungsberechtigte gefragt."