Auszüge aus Köhlers Rede "Begabung zur Freiheit"

Bundespräsident Horst Köhler hat am Sonntag die zentrale Rede bei der gemeinsamen Gedenkfeier von Bundestag und Bundesrat zum 60. Jahrestag des Kriegesendes gehalten. stern.de dokumentiert Auszüge der Rede mit dem Titel "Begabung zur Freiheit."

"Am 8. Mai 1945 hatte die Wehrmacht bedingungslos kapituliert. Die Waffen schwiegen. Die meisten Deutschen waren erleichtert darüber. Zugleich waren sie wie betäubt von der Wucht der Niederlage und fragten sich bang, welches Schicksal sie nun erwartete.

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Im Grunde wirkt das Unglück, das Deutschland über die Welt gebracht hat, bis heute fort: Noch immer weinen Söhne und Töchter um Eltern, die damals getötet wurden, noch immer leiden Menschen unter ihren damaligen Erlebnissen, und noch immer trauern ungezählte Menschen in vielen Ländern um den Verlust ihrer Heimat.

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Wir Deutsche blicken mit Schrecken und Scham zurück auf den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg und auf den von Deutschen begangenen Zivilisationsbruch Holocaust.

Wir gedenken der sechs Millionen Juden, die mit teuflischer Energie ermordet wurden, oft nach Jahren öffentlich sichtbarer Entrechtung.

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Wir gedenken der Sinti und Roma, der Kranken und Menschen mit Behinderung, der politisch Andersdenkenden und der Homosexuellen, die verfolgt und ermordet wurden.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Wir gedenken der vielen Millionen Menschen, die darüber hinaus dem deutschen Wüten vor allem in Polen und in der Sowjetunion zum Opfer fielen.

Wir fühlen Abscheu und Verachtung gegenüber denen, die durch diese Verbrechen an der Menschheit schuldig geworden sind und unser Land entehrten.

Wir trauern um alle Opfer Deutschlands, um die Opfer der Gewalt, die von Deutschland ausging, und um die Opfer der Gewalt, die auf Deutschland zurückschlug. Wir trauern um alle Opfer, weil wir gerecht gegen alle Völker sein wollen, auch gegen unser eigenes.

Wir gedenken des Leids der Zivilbevölkerung in allen Ländern. Wir gedenken der in deutscher Gefangenschaft umgekommenen Millionen Soldaten und der Millionen, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden. Wir gedenken der mehr als eine Million Landsleute, die in fremder Gefangenschaft starben, und der Hunderttausende deutscher Mädchen und Frauen, die zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden. Wir gedenken des Leids der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, der vergewaltigten Frauen und der Opfer des Bombenkriegs gegen die deutsche Zivilbevölkerung.

Wir haben die Verantwortung, die Erinnerung an all dieses Leid und an seine Ursachen wachzuhalten, und wir müssen dafür sorgen, dass es nie wieder dazu kommt. Es gibt keinen Schlussstrich.

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Deutschland ist heute ein anderes Land als vor sechzig Jahren.

Auf den ersten Blick sieht man das am Bild der Städte. Es trennen uns Welten von der Trümmerzeit nach dem Kriege.

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Deutschland ist heute aber nicht nur äußerlich ein anderes Land als vor sechzig Jahren. Unser Land hat sich von seinem Inneren her verändert, und das ist erst recht ein Grund zur Freude und Dankbarkeit.

Diesen Dank schulden wir an erster Stelle den Völkern, die Deutschland besiegt und vom Nationalsozialismus befreit haben. Sie haben den Deutschen nach dem Krieg eine Chance gegeben. Das war vernünftig, aber das macht das Geschenk nicht kleiner.

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Europa ist heute geprägt von Freiheit, Demokratie und der Geltung der Menschenrechte. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von Anfang an über alle Regierungswechsel hinweg für diese Grundwerte und für die europäische Einigung eingesetzt. Deutschland ist heute wohl erstmals in seiner Geschichte rundum von Freunden und Partnern umgeben. Zwischen uns ist Krieg unmöglich geworden.

Wir wissen auch um den Wert der transatlantischen Partnerschaft und vergessen nicht, was wir gerade den Vereinigten Staaten von Amerika zu verdanken haben. Mit dem Staat Israel verbinden uns gute Beziehungen, ja Freundschaft. Wer hätte sich das alles 1945 träumen lassen?

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Wenn wir heute auf die vergangenen sechzig Jahre zurückblicken, empfinden wir Dankbarkeit allen gegenüber, die uns beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland geholfen haben. Wir haben aber auch die Gewissheit, dass wir Deutsche den Weg zu unserer freien und demokratischen Gesellschaft aus eigener Begabung zur Freiheit gegangen sind.

Wir werden die zwölf Jahre der Nazidiktatur und das Unglück, das Deutsche über die Welt gebracht haben, nicht vergessen, im Gegenteil: Wir fassen gerade aus dem Abstand heraus viele Einzelheiten schärfer ins Auge und sehen viele Zusammenhänge des damaligen Unrechts besser.

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Sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg steht unser Land vor mancher Schwierigkeit wie andere Länder übrigens auch -, aber: Deutschland ist eine stabile Demokratie. Unser Land ist vielgestaltiger und weltoffener als jemals zuvor. Wir haben uns als Nation wiedergefunden. Unser Miteinander in Einigkeit und Recht und Freiheit ist unangefochten. Deutschlands Bürger achten auf soziale Gerechtigkeit, und sie halten zusammen, wenn es darauf ankommt.

Es gibt bei uns leider auch Unbelehrbare, die zurück wollen zu Rassismus und Rechtsextremismus. Aber sie haben keine Chance. Dafür steht die überwältigende Mehrheit der mündigen Bürgerinnen und Bürger, und dafür steht unsere wehrhafte Demokratie.

Unser Land hält Maß und hat Gewicht. Wir werden in der Welt geachtet und gebraucht. Die Bundeswehr hilft weltweit, den Frieden zu sichern und die Menschenrechte durchzusetzen. Unsere Entwicklungszusammenarbeit wird geschätzt. Und überall können Menschen in Not auf die Hilfsbereitschaft der Deutschen zählen.

Wir haben heute guten Grund, stolz auf unser Land zu sein. Das Erreichte ist undenkbar ohne die Lehren, die wir gezogen haben, und es ist das Ergebnis ständiger Anstrengung. Wir müssen diese Lehren weiter beherzigen und uns weiter anstrengen, dann werden wir mit unseren Kräften auch künftig zum Guten wirken.

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Die nachrückenden Generationen in Deutschland wissen, dass bald keine Zeitzeugen von Krieg und Vernichtung mehr da sein werden. Sie nehmen den Auftrag an, die Erinnerung an das Geschehene wach zu halten und weiterzugeben. Sie sind es, die künftig mit ihren Altersgenossen in der ganzen Welt dafür sorgen werden, dass sich solches Unrecht und Leid nicht wiederholt."

AP
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