Mit dem schlechtesten Ergebnis seit mehr als 30 Jahren ist Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in seinem Amt bestätigt worden. In der konstituierenden Sitzung des Parlaments votierten am Donnerstag in Berlin 59,9 Prozent der Abgeordneten für den SPD- Politiker, 1998 waren es noch 76,9 Prozent. Erst zwei Mal zuvor - 1954 und 1969 - waren Bundestagspräsidenten mit weniger als 60 Prozent der Stimmen gewählt worden.
Susanne Kastner Stellvertreterin
Zur Stellvertreterin Thierses aus der SPD wurde Susanne Kastner mit 70,9 Prozent der Stimmen gewählt. Kandidaten der anderen Fraktionen waren Norbert Lammert (CDU), Antje Vollmer (Grüne) und Hermann Otto Solms (FDP). Die Union berief sich bei ihrem Antrag auf einen zweiten Vizeposten auf das knappe Wahlergebnis. Der geringe Abstand zwischen CDU/CSU und SPD sollte sich auch im Präsidium widerspiegele, sagte der Geschäftsführer der Unionsfraktion, Volker Kauder. Die SPD werde mit dem Bundestagspräsidenten und einer Vizepräsidentin im Präsidium vertreten sein, daher solle auch die Union zwei Mitglieder des Gremiums stellen. Die CDU/CSU dürfe nicht wie eine Acht-Prozent-Partei behandelt werden.
Der Antrag wurde von der FDP unterstützt, mit den Stimmen von SPD und Grünen aber abgeblockt. Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck verwies darauf, dass die Regelung, nach der jede Fraktion einen Vizepräsidenten stelle, 1994 von der Union selbst durchgesetzt wurde.
Schily fordert Fairness
Thierse und der Alterspräsident des Parlaments, Innenminister Otto Schily, riefen die Abgeordneten zur Fairness auf. Die knappe Mehrheit der Koalition, die bei der Wahl nur neun Sitze mehr als die Opposition errang, sei eine »Chance zum produktiven Streit«, sagte Thierse. Er warb darum, »leidenschaftlich und fair zugleich um die beste Lösung« zu ringen. Gleichzeitig warnte der SPD-Politiker davor, die politische Auseinandersetzung in Talkshows zu verlagern. »Der Bundestag bleibt der eigentliche Ort der demokratischen Auseinandersetzung, hier ist der Ernstfall der Entscheidung.«
Schily sagte, auch bei schärfstem politischen Streit dürften die Institutionen des Staates keinen Schaden nehmen. Er warb für eine politische Kultur, »die dem Konflikt nicht ausweicht, aber dem Andersdenkenden den Respekt nicht verweigert«. Die Demokratie kenne keine Feinde, sondern nur politische Gegner. Die Abgeordneten sollten sich der Gemeinsamkeit ihrer Verpflichtungen bewusst sein und der Versuchung zu destruktivem Handeln widerstehen. Der 70-jährige Schily eröffnete als ältestes Mitglied des Bundestags die konstituierende Sitzung.
Der Bundestagspräsident wird traditionell auch mit den Stimmen der Opposition gewählt. Bisher waren Ergebnisse von mehr als 75 Prozent die Regel. Thierse erhielt 357 von 596 gültigen Stimmen. 219 Parlamentarier stimmten mit Nein, 20 enthielten sich. Damit wandte sich in der geheimen Wahl offenbar der größte Teil der 297 Oppositionsabgeordneten gegen Thierse. Dem Bundestagspräsidenten war in der vergangenen Legislaturperiode von der Union mehrfach Parteilichkeit vorgeworfen worden.
Klar wurde bereits am Mittwoch, dass die Unions-Fraktionsspitze mit SPD und Grünen kein so genanntes Pairing-Abkommen eingehen will, wie dies in der Vergangenheit üblich war.
Hintergrund: »Pairing«
Das Wort »pairing« hat seinen Stamm im englischen »pair« (das Paar), lässt sich in seiner parlamentarischen Bedeutung aber nicht adäquat mit einem Wort ins Deutsche übersetzen. Gemeint ist eine Absprache zwischen den Fraktionen, die die bei Vollzähligkeit des Parlaments herrschenden Mehrheitsverhältnisse auch für den Fall von Krankheit oder dienstlicher Verhinderung sicherstellen soll.

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In der Praxis sieht das so aus: Müssen beispielsweise fünf Angeordnete der Regierungskoalition einer wichtigen Abstimmung im Bundestag fernbleiben, weil sie zur selben Stunde an einer Sitzung der parlamentarischen Versammlung des Europarates teilnehmen müssen, zieht die Opposition zum Ausgleich fünf ihrer Abgeordneten »aus dem Verkehr«.
Pairing wird in der Geschäftsordnung des Bundestages mit keinem Wort erwähnt, aber seit vielen Legislaturperioden praktiziert. Das Verfahren wird nicht generell, sondern in der Regel für bestimmte Abstimmungen oder auch für ganze Sitzungstage zwischen den Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen vereinbart. Es erleichtert den parlamentarischen Alltag. Für Sondersituationen, in denen etwa das Schicksal der regierenden Parteien auf dem Spiel steht, wird niemand an Pairing denken - zur Abwehr eines Misstrauensvotums der Opposition beispielsweise werden die Regierungsparteien ihre Kanzler-Mehrheit vollzählig im Plenum aufbieten müssen.