Man kennt das vom Elternabend, aus Vereinen oder jeder beliebigen Behörde im Osten: Immer noch fällt es früheren DDR-Bürgern schwer, Verantwortung zu übernehmen. Dank glücklicher Umstände stehen dafür seit 1990 reichlich Fachkräfte aus dem Westen zur Verfügung. Und obwohl es nicht allen nur um schnödes Prestige geht, wird auch eigennütziges Engagement zu selten gewürdigt.
Erst vor ein paar Wochen enthüllte "Die Zeit" das offene Geheimnis, wonach die 23 Jahre alten neuen Bundesländer nach wie vor von Westdeutschen "beherrscht" würden. Allein die Wortwahl klang irgendwie kleinlich, zumal sich diese Erkenntnis auf lediglich 146 der 192 Spitzenposten in ostdeutschen Ministerien bezog, auf denen Westdeutsche kleben wie mit Uhu aus dem Intershop verleimt - also gerade mal 74 Prozent. Dennoch staunte darüber sogar der bayrische Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt, der dort auch schon 20 Jahre aushilft. Der "Dresdner" Professor, wie er deshalb in Zeitungen oft versehentlich genannt wird, hätte gedacht, dass es inzwischen mehr Einheimische "nach oben" geschafft hätten.
Zu träge, ungeeignet oder zu kleinlaut
Aber nichts. Der indigene Ostdeutsche ist offenbar zu träge, ungeeignet oder zu kleinlaut – und wird deshalb auch im neuen Bundestag (falls der irgendwann doch noch mal richtig arbeitet) von überproportional vielen Abgeordneten vertreten, die vorher nicht oder noch nicht lange in der Gegend lebten, in der sie sich aufstellen und wählen ließen.
Zunächst dachte ich auch in diesem Zusammenhang an die üblichen Verdächtigen, gescheiterte Glücksritter und dergleichen. Aber nachdem schon lange vor der Wahl gleich vier zugezogene SPD-Genossen aus dem Westen um Wolfgang Thierses Ostberliner Wahlbezirk rangelten, habe ich mal genauer hingesehen, wer hierzulande sonst noch so von Plakaten grinste. Es mag eine schlechte Angewohnheit sein, stets zu googeln, wo jemand herkommt - vielleicht sogar fremdenfeindlich. Auf der anderen Seite komme ich vergleichsweise viel in den Kolonien herum und kann nur sagen: Die demokratische Aufbau Ost scheint für viele Westdeutsche immer noch eine Herzenssache zu sein – ja, interessanter als anständige Berufe zu Hause. Das kann nicht nur am Mindestlohn liegen, der zumindest bei Diäten auch im Osten schon flächendeckend gilt.
Quer durch alle Parteien, von Links bis NPD, tummelten sie sich auf den vorderen Listenplätzen. Neben prominenten Namen wie Frank Walter Steinmeier aus Detmold oder Thomas de Maizière aus Bonn, die ihre Wahl-Heimat in Brandenburg und Sachsen fanden, fielen mir besonders viele Grüne auf: Ulrike Seemann-Katz aus Schleswig-Holstein etwa - jetzt Mecklenburg - oder die beiden "Brandenburger" Spitzenkandidaten aus Hannover und München. Nicht selten versuchten sie es schon zum zweiten Mal wie Dieter Lauinger aus Baden-Württemberg, als wenn jeder Name mit "-inger" automatisch als Thüringer durchgeht. Aber warum? Ist man als Richter in Erfurt nicht schon ganz gut versorgt?
Stuttgarter Piraten und feudale Sauerländer
Im Wahlkreis Leipzig-Nord trat ein Stuttgarter Pirat und ein Oberfranke für die FDP gegen eine Steuerberaterin aus München an, die schon seit 2009 für die CDU im Bundestag sitzt, nachdem sie als Leipziger Finanzbürgermeisterin beide Augen für ... – aber lassen wir das. Noch ungeschickter stellte sich Johannes Lohmeyer in Dresden an, der dort mehrere Hotels führt und sich für die FDP so bewarb: "1964 erblickte ich im schönen Eslohe im Hochsauerlandkreis das Licht der Welt. Die Sauerländer sind ein wildes Bergvolk; streng katholisch, lebenslustig ..."
Eine Parteifreundin aus Lörrach konkurrierte im Spreewald mit einer Rechtsanwältin von der SPD und einem grünen Architekten, beide aus München. Gegen die CDU-Frau hatten sie trotzdem keine Chance, denn die kam nicht nur in Cottbus zur Welt, sondern wurde von sexistischen Bild-Lesern nach ihrer Wahl auch noch umgehend zur neuen "Miss Bundestag" gewählt.
Die Hamburgerin Angela Merkel dagegen wird zwar häufig für eine Ostdeutsche gehalten, hat aber noch nie in ihrem Ostseewahlkreises gelebt - oder eine Miss-Wahl gewonnen. Neben den Abgeordneten Dietrich Monstadt aus Bochum, Peter Stein aus Siegen und Sonja Steffen aus der Eifel sitzt sie trotzdem wieder für Mecklenburg im Parlament.
In Brandenburg stammen gleich vier von zehn direkt gewählten Abgeordneten aus dem Westen: ein Hamburger Rechtsanwalt für die Prignitz; ein Finanzwirt aus Winsen (Luhe) für den Wahlkreis Oberhavel/Havelland II. Bei Hans-Georg von der Marwitz, geboren in Heidelberg und jetzt wieder auf den Gütern seinen Ahnen in Märkisch-Oderland zu Hause, wirkt das beinahe Gottgegeben - vorausgesetzt man begrüßt die Rückkehr zum Feudalismus. Außer Frank Walter Steinmeier – Bundesminister a.D. beziehungsweise in spe - rutschte für die SPD auch noch ein Gewerkschafter vom Niederrhein rein. Ebenso eine grüne Brandenburgerin aus Hannover. Und wer – aber das nur nebenbei – übernahm deren Posten als Landesvorsitzende? Eine Frau aus Münster.
Die Landesliste als Trostpreis
Oft wird im Osten auf ABM, Ausländer oder EU-Freizügigkeit geschimpft. Umso ermutigender ist es, dass sich Westdeutsche selbst dann nicht entmutigen lassen, wenn sie in ihren Wahlkreisen eigentlich keiner will. Ihr Trostpreis ist die Landesliste. Und so vertreten SPD-Genossen aus Westfalen und Hessen trotzdem Ost-Berliner in Pankow und Köpenick, eine Frau aus Münster – schon wieder – Marzahn und Hellersdorf. Der traditionell einzig direkt gewählte Grüne, der neben Kreuzberg auch für Friedrichshain zuständig ist, kam wenigstens in Halle/Saale zur Welt. Vielleicht ist es aber auch nur Zufall, dass Hans-Christian Ströbele bei Wählern und Whistleblowern besonders viel Glaubwürdigkeit genießt.
Thüringen verlor nur drei engagierte Westdeutsche nach Berlin, ebenso Sachsen-Anhalt, das Bundesland mit der niedrigsten Wahlbeteiligung. Dort hat es auch Jan Korte wieder geschafft, der früher in Niedersachsen bei den Grünen mit Politik anfing, aber bei der Linkspartei in Sachsen-Anhalt 2009 sogar mal ein Direktmandat gewann und nebenbei eine Art Karriereratgeber für westdeutsche Berufspolitiker verfasst hat. Das Büchlein heißt: "Geh doch rüber!".
Sachsen ordnete acht Westdeutsche ab, darunter einen Offizier der Heilsarmee aus Siegen für die CDU, aber auch einen ausgedienten West-Berliner Polizisten für die SPD – nicht zuletzt drei Linke, denen die SED-Keule nichts ausmacht, weil sie deren Blüte noch im Westen erlebten. Überhaupt muss man sagen, dass die Linkspartei die Einheit am gründlichsten vollzogen hat: Obwohl sie ihm Westen keinen leeren Blumentopf gewinnt, stammen 38 ihrer 64 Bundestagsabgeordneten von dort. Mit Sahra Wagenknecht, Thomas Lutze und Katrin Werner sogar drei ehemalige DDR-Bürger, die jetzt – vermutlich eher aus privaten Gründen - im Westen leben. Angesichts der Völkerwanderung von Ost nach West scheint das auch nicht so ungewöhnlich wie umgekehrt.
Wenn ich mich nicht verrechnet habe – und ich hatte Mathe ja nicht in Bremen oder NRW – sind auf der anderen Seite 24 von 103 Mandaten mit Westdeutschen besetzt. Rechnet man noch die tapferen Ostberliner Westfalen mit ein, ist jeder vierte ostdeutsche Abgeordnete gar keiner – Grenzfälle wie Frau Merkel vorsichtshalber mal außen vor.
Dafür ist Karamba Diaby aus Halle schon jetzt der neue Medienliebling im Bundestag. Ständig soll er etwas zur künftigen schwarz-roten Koalition sagen – als SPD-Genosse und erster gebürtiger Afrikaner... Leider ist er zu höflich, um diesen plakativen Rassismus zu geißeln. Vielleicht auch, weil er in erster Linie "Ostdeutscher" ist, wie er selbst gern und ausdrücklich betont. Das immerhin trauen sich die meisten westdeutschen Ost-Abgeordneten noch nicht. Es sei ihnen hiermit aber auch von Herzen gegönnt: Gib Westdeutschen eine Chance!