Der DGB-Chef zeigte sich zuversichtlich: "Wenn wir schreiten Seit' an Seit', dann können wir es schaffen", rief Michael Sommer vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Und es waren mehr Menschen als erwartet, die am Samstag Seit' an Seit' durch die Hauptstadt, Stuttgart und Köln schritten: Mehr als eine halbe Million Menschen waren dort auf der Straße, um gegen Kürzungen im Sozialbereich zu demonstrieren.
Allein in Berlin wurden rund 250.000 Teilnehmer gezählt. Die Straßen in der Hauptstadt waren so voll, dass viele Demonstrationsteilnehmer keine Chance hatten, zur Abschlusskundgebung vorzudringen. Auch in Stuttgart ging im Gedränge nichts mehr - weder vor noch zurück. Mütter mit Kinderwagen, die zum Shoppen in die Stadt gekommen waren, blieben ebenso stecken wie die mit Sonderzügen und Bussen angereisten Gewerkschafter.
Kampfansage an die Agenda 2010
Auch wenn die meisten Gewerkschaftsfunktionäre ihre Kritik gleichermaßen auf Rot-Grün, Union und FDP verteilten, richtete sich die Wut der Demonstranten doch in erster Linie auf die Bundesregierung. "Bei Rot-Grün sehen wir schwarz", war auf einem großen Transparent in Berlin zu lesen. Auf einem anderen Plakat hieß es lapidar: "Schröder muss weg". Elektrotechnik-Meister Lutz Faßbender, der mit seiner sechsjährigen Tochter Anna durch die Kölner Innenstadt marschierte, warf den Sozialdemokraten vor, sie hätten sich "vom Sozialstaat verabschiedet". Doch auch die CDU bekam ihr Fett weg: Auf der Kölner Abschlusskundgebung wurde die Rede des früheren Bundesarbeitsministers Norbert Blüm von einem gellenden Pfeifkonzert begleitet.
"Alles für alle"
Es war ein buntes Völkchen, das sich zum Protest zusammengefunden hatte. Neben zahlreichen Gewerkschaftern schritten Studenten, PDS-Anhänger und Globalisierungskritiker einträchtig neben katholischen Betriebsseelsorgern, türkischen Frauenverbänden oder Gegnern des Irak-Kriegs, und in Stuttgart skandierten autonome Jugendliche "Alles für alle - und das umsonst".
Erinnerungen an 1989 werden wach
Auf den Berliner Straßen sorgte unter anderem ein Bergmanns-Blasorchester aus dem Erzgebirge für die musikalische Untermalung des Protests, und auf der Bühne am Brandenburger Tor musizierten "Die Prinzen", die sich bei den Erfolgsaussichten der Massenproteste ebenso optimistisch zeigten wie der DGB-Vorsitzende Sommer. Sebastian Krumbiegel, einer der Sänger der Leipziger Combo, erinnerte an die erfolgreichen Montags-Demonstrationen von 1989.
Beim "Prinzen"-Auftritt vor der Abschlusskundgebung herrschte am Brandenburger Tor Partystimmung. Bei ihrem größten Hit "Alles nur geklaut" dröhnte es an den entsprechenden Stellen aus Tausenden Kehlen "ejo ejo". Doch mit der anschließenden Gewerkschaftsrhetorik konnten sich viele offensichtlich weniger anfreunden. Als die Rede von DGB-Chef Sommer nach 15 Minuten immer noch kein Ende fand, waren die Abwanderungstendenzen kaum mehr zu übersehen.