Der Rauch über Ground Zero hat sich verzogen, und allmählich wird klar, dass der 11. September der sinistre Auftakt für ein neues Zeitalter globaler Gewalt und Konfrontation war. Zwei Monate danach ist Amerika verstrickt in einen absurden Krieg, vom Opfer zum Täter mutierend, ein geschundenes Dritte-Welt-Land mit Bombenteppichen verwüstend, von Tag zu Tag tiefer versinkend im Sumpf eines ziellosen Rachefeldzugs, und wir, die Deutschen, in »uneingeschränkter Solidarität« dabei, nach langem Betteln endlich belohnt mit der herablassenden Zusage, ein paar tausend Soldaten nach Innerasien schicken zu dürfen - der Kanzler am Ziel seines Herzenswunsches, aufgenommen zu sein in den Herrenclub der Großen, mit den Waffenbrüdern vereint im Kampf gegen den Weltfeind.
»The Germans to the front« - das hat uns schon vor hundert Jahren begeistert, als der britische Admiral Seymour, der 1900 die internationale Strafexpedition gegen China befehligte und mit seiner Truppe im gegnerischen Feuer liegen bieb, den legendären Einsatzbefehl für Wilhelms Marineinfanteristen gab. Der englische Notruf wurde zum deutschen Triumph. »Wo andrer Völker Flaggen wehn, da leuchte stolz, Deutschland, auch dein Panier«, hieß es damals in einem patriotischen Gedicht.
Nun soll unser Panier also am Hindukusch leuchten. So weit weg von der Heimat waren deutsche Soldaten selbst unter Hitler nicht, und sicher werden die Feldpostbriefe aus Usbekistan und umliegenden Einöden später hohen Sammlerwert haben. Der Krieg, so lange diffamiert in diesem Land, ist endlich rehabilitiert als Friedensdienst und wieder eingesetzt in sein altes Recht, Teil unseres Lebens zu sein. Der Kanzler, der bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren das »Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation« verkündete, nennt das die »Enttabuisierung des Militärischen«. Man könnte es auch die
Wiedergewinnung der Lizenz zum Töten nennen, als Ausweis unseres »Erwachsenseins«.
Der Afghanistankrieg bedeutet das Ende der alten Bundesrepublik. Es ist der Abschied von einem Staat, der, bei allen demokratischen Defiziten, dem Krieg abgeschworen und sich feierlich verpflichtet hatte, nur im Fall der Selbstverteidigung zu den Waffen zu greifen. Das ist nun vorbei. Es gibt keine rechtliche und schon gar keine moralische Beschränkung mehr für eine Kriegsbeteiligung, weder geografisch noch zweckgebunden. Was immer dagegenstand an vertraglichen und gesetzlichen Hemmnissen - vom Grundgesetz bis zum Nato-Vertrag und zur UN-Charta -, wurde unter der Regierung einer vormals sozialdemokratischen und einer einst pazifistischen Bürgerrechtspartei Schritt für Schritt aus dem Weg geräumt und nun endgültig liquidiert.
Ende einer Ära
Der Kriegsteilnahmebeschluss der Regierung markiert das Ende einer Ära und bedeutet die Selbstentmannung des Parlaments. Der Kanzler verlangt vom Bundestag nicht mehr und nicht weniger als eine Generalermächtigung für den Kampfeinsatz, wobei Ort, Art, Zweck und Umfang des Einsatzes seiner freien Entscheidung überlassen bleiben. Als mögliche Einsatzgebiete nennt die Kabinettsvorlage »die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nordostafrika, sowie die angrenzenden Seegebiete« - das ist exakt jene Region, die das britische Weltreich mehr als hundert Jahre lang beherrschte, bis es den islamischen Völkern endlich das Selbstbestimmungsrecht einräumte.
Was wir jetzt erleben, ist die Rückkehr des Westens zur guten alten Hegemonialpolitik, zum großen Knüppel einer
imperialistischen Weltordnung - und wir sind herzlich eingeladen mitzuspielen, und sei es nur, um dem Ganzen den Anstrich der »Internationalität« zu geben.

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In den Augen der islamischen Welt zeigt der Westen damit genau jene diabolischen Züge, die ihm bin Laden und seine Gesinnungsfreunde schon immer zugeschrieben haben - ein waffenstarrender Koloss, der den Rechtgläubigen mit brutaler Gewalt seine gottlose Herrschaft aufzwingt. Der »Kampf der Kulturen« ist keine Phantasmagorie mehr - wir sind mittendrin, und Deutschland ist Teil der Konfrontation geworden.
Orwellsches Täusch-Wort »Sicherheitspaket«
Der Rückkehr zum Krieg entspricht innenpolitisch der Abbau der freiheitlichen Sicherungen, die das Individuum vor dem Staat schützten. Was die Regierung jetzt unter dem Orwellschen Täusch-Wort »Sicherheitspaket« durchpeitscht, kommt einem stillen Staatsstreich nahe: Es ist die Verwandlung des liberalen Rechtsstaats in den totalen Überwachungsstaat, der das Volk a priori als kollektives Sicherheitsrisiko betrachtet. Dieses Gesetz »hat keinen Respekt vor der Rechtstradition unseres Landes, vor Würde und Privatheit seiner Bürger. Es verrät einen totalitären Geist« - so der Altliberale Burkhard Hirsch (FDP), Ex-Vizepräsident des Bundestages.
Die künftig vernetzten Sicherheitsdienste werden die Gesamtbevölkerung unter elektronischer Kontrolle haben. Sie können sich per Knopfdruck jeden beliebigen Bürger, ob verdächtig oder nicht, herausfischen. Sie wissen, wo er sich aufhält, was er tut, wie viel Geld auf seinem Konto ist, wohin er reist und mit wem er Umgang pflegt. In seinem Ausweis sind Daten
gespeichert, die er selbst nicht lesen kann - er ist vom Bürger zum Objekt degradiert. »Das alles«, so Hirsch, »stellt uns vor die Frage, ob wir ein demokratischer Rechtsstaat bleiben.« Man darf die Frage inzwischen mit Nein beantworten.
Schon geht der Geist der Inquisition um. Schon sind Sprachregelungen in Umlauf, von niemandem verordnet, aber von vielen in vorauseilendem Gehorsam befolgt. Schon macht sich verdächtig, wer die »uneingeschränkte Solidarität« verweigert und auf dem Recht der eigenen Meinung besteht. »Antiamerikanismus« heißt das Delikt, das hart am Rand der Verfassungsfeindlichkeit rangiert. Schon wurden Lehrer gemaßregelt - in Sachsen, in Thüringen, in Nordrhein-Westfalen -, die sich erlaubten, im Unterricht die Weisheit dieses Krieges in Zweifel zu ziehen. Noch ehe die Meinungsfreiheit gesetzlich beschränkt ist, dreht ihr die Feigheit die Luft ab. Es bedarf keines Diktators, um sie zu ersticken. Wir erledigen das schon selbst.
Deutschland führt also keinen Krieg im fernen Afghanistan, es steht vielmehr im »Kampf gegen den internationalen Terrorismus«, geografisch unbegrenzt. Der große Steuermann hat den ganzen Globus zur potenziellen Kampfzone erklärt. »Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns«, heißt die Parole. Und da sie mit gezogener Waffe verkündet wird, zeigt sie Wirkung - es ist in diesen Zeiten nicht ratsam, auf der falschen Seite zu stehen. Wie es um die innere Solidarität der auf diese Art erpressten »Allianz« bestellt ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Wir sind Mitläufer
Wir sind Mitläufer. Es ist nicht unser Krieg, was immer der Chor der Zustimmungsparteien auch sagen mag. Es ist Amerikas Krieg, ein Krieg mit dunklen Motivationen und verborgenen Zielen. Ginge es allein um einen Schurken namens Osama bin
Laden, so hätte das Pentagon die Angelegenheit besser den Israelis übertragen sollen. Sie hätten die Sache längst erledigt, geräuschlos und effizient. Der Mann wäre entweder tot oder hinter Gittern wie Abdullah Öcalan, der Boss der PKK, den sie in Afrika kidnappten und an die dankbaren Türken auslieferten.
Doch es geht in Afghanistan eben um mehr als um einen zum Mythos hochstilisierten Mafiaboss. Das Pentagon weiß so gut wie jedermann, dass der Terrorismus nicht durch Flächenbombardements und High-Tech-Waffen auszurotten ist. Das groteske Missverhältnis zwischen den armseligen Freischaren der Taliban und dem gigantischen Aufmarsch der Supermacht hat nur eine einzige rationale Erklärung: Dies ist ein Feldzug zur Wiederherstellung der westlichen Hegemonie in dieser Weltgegend.
Ginge es nicht um Öl, würden die USA keinen Militäraufmarsch veranstalten, der ausreicht, um die ganze Region in Schutt und Asche zu legen. Es geht aber um Öl. Seit langem träumen amerikanische Konsortien von einer Pipeline vom Kaspischen Meer zum Persischen Golf - quer durch Afghanistan. Die CIA verhandelte darüber vor drei Jahren mit den Taliban, ihren einstigen Zöglingen. Die Taliban machten den Fehler, nein zu sagen. Sie wollten die Ungläubigen nicht im Land haben. Heute erhalten sie die Quittung für ihre Sturheit, doch man darf sicher sein, dass eines Tages, wenn bin Laden und die Bomben und die Toten vergessen sind, das Öl durch Afghanistan fließen wird - vorausgesetzt, die ganze Region explodiert nicht vorher wie ein Pulverfass.
Geschichte wiederholt sich
Die Geschichte liebt Neuinszenierungen des immer gleichen Dramas. Am 28. Juni 1914 ermordeten serbische Terroristen in Sarajevo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. Es war der bis dahin schwerste Terroranschlag, den Europa erlebte. Das Habsburgerreich sah sich aufs Tiefste herausgefordert und erklärte Serbien den Krieg. Die Folge war ein Völkergemetzel, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Am Ende war das Habsburgerreich ausgelöscht, und Deutschland, das ihm in »Nibelungentreue« (so Wilhelm II.) zur Seite stand, lag ruiniert und gedemütigt am Boden. Die Geschichte wiederholt sich nicht auf die simple Art, aber sie spinnt immer am gleichen Faden weiter. Leider vergessen wir die Lektionen.
Heinrich Jaenecke