Er läuft fast schon wieder richtig rund. Die Krücken stehen hinten in der Ecke des Ministerbüros. Die Bänder im rechten Fuß halten wieder; sie waren gerissen, als er im Sommer beim Joggen ausholte, gegen einen Apfel kickte und dabei dummerweise auch einen Bordstein traf. Ab und zu muss Franz Müntefering noch zur Bewegungstherapie, aber die Schmerzen klingen allmählich ab. "Eines Morgens werden Sie aufwachen und nicht mal merken, dass es gar nicht mehr wehtut", hat sein Krankengymnast prophezeit. Ein schöner Satz; man könnte ihn problemlos auf die Große Koalition münzen.
Auch seiner Frau Ankepetra, die lange krank war, geht es besser. Er hat sich intensiv um sie gekümmert und saß ein bisschen seltener in Hinterzimmerveranstaltungen. Unwichtiges Zeug, trotzdem haben Genossen, die es besser wussten, gegrummelt: Der Franz vernachlässigt die Partei, der macht nur noch auf Vizekanzler, die SPD ist ihm schnurz. Und Journalisten, die es ebenfalls besser wussten, haben das Gegrummel transportiert. Er hat sich nicht dagegen gewehrt. Das knappe Leben jenseits der Politik, die Familie, ist ihm ein fast heiliges Gut. Das schützt er, schärfer als viele andere. Er redet selten darüber, und am liebsten wäre ihm, dass gar nicht darüber geschrieben würde.
Manchmal wirkt er so alt, wie er ist
Das alles hat ihn Kraft gekostet, mehr als jeder Streit um Gesundheitssoli und HartzIV. Wer genauer hinguckte, konnte beobachten, wie er seine Finger manchmal unter dem Tisch durchwalkte, während oben routiniert Münte-Sprech aus dem Mund strömte. Zuweilen sah er ziemlich fahl aus und wirkte so alt, wie er ist: in ein paar Tagen 67. Aber das waren Ausnahmen. Franz Müntefering hat sich im Griff. Er ist Profi. Einer vom alten Schlag.
Politisch ist er nahezu schmerzunempfindlich. Wer sieben Jahre Rot-Grün durchgestanden hat, kommt sich vermutlich eh vor wie ein Überlebender zweier Flugzeugabstürze: unkaputtbar. Ihm sei "eigentlich egal", in welche Schublade er aktuell gepresst wird. Der "Spiegel" prügelte ihn als "Gewesenen", dessen Gestaltungswille "zusammengefallen ist wie ein erkaltetes Soufflé", und pries ihn dann als "letzten Reformer". Dazwischen lagen 14 Tage.
Irgendwo dazwischen, zwischen Tradition und Moderne, liegt auch die Wahrheit. Franz Müntefering, der Minister für Arbeit und Soziales, sieht sich als Testamentsvollstrecker der Agenda-Politik Schröders und als deren Fortentwickler; hinter der Rente mit 67 stehe "ein gesellschaftliches Konzept", bei dem es ihm darum geht, die Lasten zwischen Alt und Jung gerechter zu verteilen - zugunsten der Jüngeren und der Familien. Zugleich ist er der Lordsiegelbewahrer der letzten anscheinend ewig gültigen sozialdemokratischen Güter wie des Kündigungsschutzes; und Franz dem Kapitalismuskritiker hat Günter Grass zum Dank sogar ein Heuschreckenbild gewidmet.
Die gute Seele der Regierung
Nicht zuletzt ist Müntefering die gute Seele der Regierung, der Sozi des Vertrauens für die Union, der ideelle Großkoalitionär. Ein "lauterer Vizekanzler" sei er, sagt einer aus Merkels Tross; die Kanzlerin vertraue ihm auch deshalb so vorbehaltlos, weil er keine Ambitionen mehr hege. Das allerdings haben schon ganz andere angenommen.

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Ende November hatte Angela Merkel abends zur Feier des Einjährigen der Regierung ins Kanzleramt geladen. Es gab Bier und Buletten, Käse und Kartoffelsalat und zwei kurze Selbstlobreden. Die eine hielt die Hausherrin, die zweite ihr roter Stellvertreter. Sie gipfelte in den Schlussphrasen: "Kanzlerin gut, Koalition gut. Glück auf." Die Runde aus Ministern und Fraktionschefs hat gelacht. In der zweiten SPD-Reihe finden sie solche Sätze eher zum Heulen. Für Müntefering gehe Regieren inzwischen über alles, klagt ein Landesfürst; da sei er richtiggehend "manisch".
Ist das so falsch, Herr Vizekanzler? "Ich habe jetzt eine andere Funktion", erwidert der Kritisierte kühl. "Es mag dem einen oder anderen schwerfallen, das zu akzeptieren."
Er hat die Partei hinter Schröder hergeschleift
Vielleicht hat sich auch gar nicht Franz Müntefering so sehr gewandelt, vielleicht war ja das Bild geschönt, das andere sich von ihm gemacht hatten. Er war ja immer eher ein Mann der Exekutive, der lieber recht bekommt als recht hat und Opposition deshalb schiete findet. Er hat, schon als Generalsekretär, dann als Vorsitzender die Partei hinter Schröder hergeschleift und die Kollateralschäden in Kauf genommen; der erbarmungswürdige Zustand der SPD in den Ländern ist auch Ergebnis seines Mitwirkens.
Und trotzdem sitzt Franz Müntefering dieser Tage in seinem Büro und wirkt sehr mit sich im Reinen - soweit Außenstehende das beurteilen können. Der Mann hat eine blickdichte Psyche. Auf dem Boden steht, in Luftpolsterfolie verpackt, eine Warhol-Grafik, sie zeigt Willy Brandt - den einzigen längerfristigen SPD-Vizekanzler vor Müntefering. Den Platz an der Wand dafür hat er schon ausgeguckt, schräg rechts vorm Schreibtisch, gut zu sehen.
Sind Sie zufrieden mit dem ersten Jahr der Regierung Merkel/Müntefering? "Ja, wenn man die Ausgangslage bedenkt." Er knuspert einen Zuckerwürfel. "2006 hat uns in die richtige Richtung gebracht." Denn wichtig, zitiert er gern die Dortmunder Kickerlegende Adi Preißler, "wichtig ist aufm Platz". Und da sieht's momentan ganz gut aus. Die Wirtschaftsforscher streiten darüber, ob es dieses Jahr nun im Mittel 400.000 Arbeitslose weniger geben wird oder gar 500.000. "Es gibt eine Spirale nach oben", sagt er. "Die Zuversicht steigt bei den Menschen. Es gibt nicht mehr so viel Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Es ist schon etwas anderes, wenn die 90,4 Prozent, die Arbeit haben, keine Angst mehr haben, und die 9,6 Prozent Arbeitslosen Hoffnung schöpfen, wieder einen Job zu finden."
Wir müssen neue Sicherheit schaffen, predigt er immer und überall; nur so kriegen die Leute wieder Vertrauen. Sie müssen sicher sein vor Willkür und Hungerleidertum - daher sein Streben, dieses Jahr irgendwie Mindestlöhne durchzusetzen. Sie müssen zudem sicher sein, dass nicht alle naslang an den Sozialsystemen herumgedoktert wird. Das macht sie sonst konfus. Deshalb hält Müntefering die Gesundheitsreform zwar für herzlich missraten - doch unbeirrt an ihr fest. Er bringt das auf die Formel: "Die Gesundheitsreform ist ein schwieriges Kind - aber die muss man ja besonders fördern."
"Die Menschen dürfen nicht an Europa verzweifeln"
Und wenn die Kanzlerin in den ersten sechs Monaten des neuen Jahres die deutsche EU-Präsidentschaft nutzt und glanzvoll gipfelt, sich um Erweiterung und Verfassung der EU kümmert, um Türkei und Nahost, dann wird "Sicherheits"-Chef Müntefering sein Gegen- und Ergänzungsprogramm fahren und das Thema Europa zu erden versuchen. "Die Menschen dürfen nicht an Europa verzweifeln, sie wollen, dass es sozial zugeht, dass es für sie besser wird, dass Prosperität da ist, dass Deutschland blüht - ich sag das jetzt absichtlich so pathetisch."
Das Sozialmodell Europa weiterzuentwickeln, gerechter, mit weniger Steuerwettstreit und mehr Chancengleichheit, "das wird mein Part sein", sagt Müntefering. Deutschland müsse dabei die "treibende Kraft" sein, "wir dürfen da nicht zu bescheiden sein". Er ahnt aber, wie schwierig das werden wird. "Das darf nicht auf EWG modern hinauslaufen", auf eine reine Wirtschaftsgemeinschaft, mahnt er. "Da müssen wir alle noch drücken, dass die Frage der sozialen Komponente stärker hineinkommt" in die ganze Gipfelei. Will heißen: Die Kanzlerin interessiert anderes mehr, viel mehr. Aber sie lässt ihren Vize gewähren. Sie weiß, dass er in ihrem Schatten bleiben wird.
Was muss 2007 besser laufen in der Koalition? "Was immer hilft, ist nicht so viel rumquatschen draußen", antwortet er. "Es ist ein bisschen viel geredet worden, das sag ich nicht nur nach einer Seite." Aber es soll ja anders werden: "Wir wissen jetzt alle, wo die Glocken hängen."
"Dilemma der permanenten Offenheit"
Ein paar Tage vor Weihnachten saß er auf dem Podium in der Akademie der Künste. Es ging um Politik und Medien. Müntefering sprach über das "Dilemma der permanenten Offenheit"; darüber, wie schwer es heute falle, politische Prozesse so zu steuern, dass das Ergebnis nicht kaputt- gequasselt wird. Eigentlich geht es nur noch wie bei der Agenda 2010, die er mal als Operation "ohne Diagnose und ohne Narkose" bezeichnet hat, oder wie bei seinem Vorstoß zur Rente mit 67; man könnte es Überrumpelungspolitik nennen. Oder es geht eben gar nicht oder schief. Siehe Gesundheitsreform.
Und dann stellt er, ansatzlos aus der Hüfte schießend wie Wyatt Earp, die Frage:
"Kennen Sie Karl Lauterbach?"
Verdutzte Gesichter im Saal.
"Ja."
Schweigen. Vereinzeltes Gekicher.
"Ich muss ja mitdenken lassen."
Mehr sagt er nicht, muss er auch nicht mehr. Karl Lauterbach ist bekannt. Karl Lauterbach sitzt für die SPD im Bundestag. Er ist direkt gewählt. Mediziner und Professor der Gesundheitsökonomie. Ein Mann, der weiß, wovon er redet. Und er redet ziemlich viel, vor allem mit Journalisten. Seine Meinung steht allerdings häufig im diametralen Gegensatz zur Meinung der Herrschenden.
Eigentlich ist Karl Lauterbach das Idealbild des unabhängigen Abgeordneten. Für jemanden wie Franz Müntefering, der Politik gern durchorganisiert, ist er die Pest, eine ähnliche Geißel wie die schwarzen Ministerpräsidenten für Angela Merkel. Ein Störfaktor, unkalkulierbar. Überhaupt hält Müntefering die Art, wie Peter Struck die SPD-Fraktion führt, für gewöhnungsbedürftig. Viel zu unstramm. Als Fußballtrainer wäre Franz Müntefering wahrscheinlich ein harter Hund, ein Typ wie Felix Magath. "Quälix" haben die Spieler ihn früher genannt.
Seine Partei darf kein Talent verschwenden
Andererseits weiß Müntefering genau, dass seine Partei kein einziges Talent verschwenden darf. Er hat deshalb an Sigmar Gabriel festgehalten, als der im Genossenverschiss war, und an Peer Steinbrück, mit dem ihn viel verbinden mag, nur keine besondere gegenseitige Sympathie. Er hat sie zu Ministern gemacht. Zu seinen Ministern. Er war der Fädenführer. Das ist jetzt Kurt Beck.
Und irgendwie ist Franz Müntefering, im Abend seiner Karriere, plötzlich wieder nur der starke zweite Mann. Wenn die Koalitionsspitzen tagen, spricht Beck für die SPD. Müntefering akzeptiert ihn persönlich und politisch - "neben sich", wie einer aus der Runde feinsinnig anmerkt. Aber immerhin, er akzeptiert ihn. So viel Abstimmung wie zwischen den beiden war selten in der SPD. Beide sind stur und erstaunlich oft unterschiedlicher Ansicht: beim Investivlohn, in der Unterschichtenfrage, beim vorsorgenden Sozialstaat, bei der stärkeren Steuerfinanzierung der Sozialsysteme. Genauso erstaunlich ist aber, dass sie offenen Streit bisher vermieden haben. Sie wissen, dass sie einander brauchen. Der eine, um Kanzler zu werden, der andere, um...
Ja, wozu eigentlich? Vielleicht will Franz Müntefering, wie einige vermuten, in die Geschichtsbücher eingehen, etwa als Reformvizekanzler, der die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpft hat. Vielleicht will er einfach nur beweisen, dass die Neuwahl-Entscheidung richtig war. Vielleicht muss er den Verlust des SPD-Vorsitzes kompensieren. Vielleicht ist ihm das auch wirklich alles wurscht, was die anderen von ihm halten und sagen. Vielleicht. Wie gesagt, sein Innerstes bleibt verhüllt. Meist jedenfalls.
"Bei dir weiß man nie so genau"
"Die Koalition hält bis 2009 und erst dann wird gewählt", hat Peter Struck kürzlich vor den SPD-Abgeordneten aus Nordrhein-Westfalen gesagt. Er machte eine Kunstpause, wandte sich Richtung Müntefering und fügte in ganz ernstem Tonfall an: "Aber Franz, bei dir weiß man ja nie so genau."
Das sollte ein Scherz sein. Aber Müntefering guckte doch ein bisschen erschrocken. Fast wie ertappt. Das passiert ihm nicht so oft. Es läuft eben doch noch nicht alles ganz rund.