Über den Mann, dem sie vor ein paar Wochen Zutritt in ihr Haus gewährte, hat Sahra Wagenknecht in der Vergangenheit nicht sehr freundlich gesprochen. Sie schimpfte über die Agenda 2010 von Gerhard Schröder, die "viele Menschen in die Armut gestürzt und die Ausbeutung von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch Lohndumping und Leiharbeit ermöglicht" habe. Das Jobwunder, von dem wegen der sinkenden Arbeitslosigkeit die Rede war, sei "ein Hungerlohnwunder".
Schröder wiederum wies 2017 Gedankenspiele über eine Koalition von SPD, Linken und Grünen nach der Bundestagswahl zurück. Rot-Rot-Grün könne man erst machen, wenn bei der Linken "vernünftige Leute" das Sagen hätten. "Ich glaube nicht, dass man das hinbekommt, solange die Familie Lafontaine in der Linkspartei tonangebend ist", sagte Schröder damals dem Spiegel. Damit meinte er Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht.
Außenpolitische Einigkeit, innenpolitische Differenzen
Im Mai 2023 aber wurde Schröder von genau dieser Familie freundlich empfangen, wie der stern am Dienstag berichtete. Schröder sprach sich mit seinem großen Widersacher Oskar Lafontaine aus und gratulierte ihm jetzt vorzeitig zum 80. Geburtstag. Steckt da mehr dahinter? Eint die die Widersacher von einst wegen ihrer russlandfreundlichen und amerikakritischen Position mehr, als sie innenpolitisch noch immer trennt? Plant Schröder am Ende gar, einer von Sahra Wagenknecht gegründeten Partei beizutreten, wie in sozialen Medien geunkt wird?
Wohl kaum. Die SPD bleibt Schröders politische Heimat. Ob sie das überhaupt will, interessiert ihn nicht. Die SPD zu verlassen, wäre aus Schröders Sicht wie Verrat an der eigenen Geschichte, weil er sich selbst und seine politische Laufbahn geradezu als idealtypische Erfüllung des sozialdemokratischen Versprechens sieht.
Keine Ehrenmitgliedschaft zählt für ihn so viel wie das Parteibuch
Gerhard Schröder ist in den vergangenen Jahren wegen seiner Freundschaft mit Wladimir Putin und seinen geschäftlichen Beziehungen zur russischen Energieindustrie zu einem von vielen geächteten Mann geworden. Er musste Jobs aufgeben wie den Beraterposten beim Schweizer Verlag Ringier und verlor sein Büro als Altkanzler in Berlin. Man entzog ihm die Ehrenmitgliedschaften bei Borussia Dortmund und im Deutschen Fußball-Bund, er kam dem wahrscheinlichen Entzug der Ehrenbürgerwürde der Stadt Hannover zuvor, indem er sie von sich aus "unwiderruflich" zurückgab.
Nur um eines kämpfte er mit aller Entschlossenheit: das Parteibuch der SPD. Und mit Erfolg. Die Spitze der Sozialdemokraten um Saskia Esken und Lars Klingbeil – letzterer früher ein Fan Schröders und noch im Wahlkampf 2021 Profiteur eines gemeinsamen Wahlkampfauftrittes – legten Schröder den Austritt aus der SPD nahe. Mehrere Ortsvereine strengten ein Ausschlussverfahren an, das über zwei Instanzen ging, im Mai 2023 aber vor der Bundesschiedskommission der SPD endgültig scheiterte.
"Ich bin in der SPD wegen des Versprechens auf Chancen für alle"
Schröder kam aus ärmsten Verhältnissen. Neben seiner schulischen Laufbahn im zweiten Bildungsweg und seinem beruflichen Aufstieg als Anwalt war die Partei sein Vehikel für soziale Anerkennung. "Ich bin seit meinem 19.Lebensjahr Mitglied der SPD. Ich bin in unsere Partei eingetreten, weil sie auch ein Versprechen ist: ein Versprechen auf Chancen nicht nur für die, denen das von Haus aus gegeben ist", sagte Schröder auf dem Parteitag 2001, damals als SPD-Vorsitzender und Kanzler.
Die SPD hat ihm gegenüber dieses Versprechen eingelöst. Er setzte sich durch, manchmal mit raffinierten Methoden, manchmal mit harten Bandagen, manchmal rücksichtslos, ja brutal, und immer mit unbedingtem Aufstiegswillen. Mit der Eroberung des Kanzleramtes nach 16 Jahren Helmut Kohl gab Schröder der Partei 1998 mehr zurück als die Macht: Sein subjektives Gefühl der Akzeptanz in einer bürgerlichen Gesellschaft übertrug sich auf die ganze SPD.
Sein Machtwille stand oft gegen Ideale der Partei
Ein schwieriges Verhältnis ist es trotzdem immer geblieben. Auch weil sein Machtwille und Pragmatismus stets im Missverhältnis zu den Idealen der Partei standen. Als Schröder nach dem plötzlichen Abgang Oskar Lafontaines 1999 auch den SPD-Vorsitz übernahm, weinten die Delegierten des Parteitages noch seinem geliebten Vorgänger hinterher. "Was ich möchte", sagte Schröder in seiner Bewerbungsrede, "ist euren Respekt und eure Unterstützung." Sehr viel mehr wurde es tatsächlich nicht: Mit 76 Prozent fuhr er ein lausiges Ergebnis ein.

Fünf Jahre später gab Schröder den Vorsitz zur Erleichterung der Partei weiter an Franz Müntefering und verabschiedete sich mit den Worten: "Ich möchte, dass ihr das wisst: Ich war stolz darauf, Vorsitzender dieser großen, ältesten demokratischen Partei in Deutschland sein zu dürfen."
Seine Wahlergebnisse als das Maß der Dinge
Das Darben der SPD in den Jahren der großen Koalition verfolgte Schröder aus der Distanz. Er glaubte, der größte Fehler seiner Partei sei es gewesen, sich nie wirklich zu seiner Reformpolitik bekannt zu haben. Auch wenn er sich gefreut haben dürfte, dass die SPD das Kanzleramt 2021 wieder erobern konnte, ließe sich aus Schröder leicht der Hinweis herauskitzeln, dass er sogar bei seiner Niederlage 2005 noch fast zehn Prozentpunkte mehr erzielt hatte als Olaf Scholz bei seinem Sieg 2021.
Natürlich ist das auch die Eitelkeit eines alten Mannes. Aber es steckt darin auch Schröders ungebrochene Überzeugung, zu seiner Zeit viel mehr SPD verkörpert zu haben, als seine Nachfolger es tun, egal in welchem Amt. Es steckt darin der Stolz auf eine Karriere in und mit der SPD, aber auch für sie; die personifizierte Verwirklichung des sozialdemokratischen Traumes. Deshalb wird er nicht aus der Partei austreten. Nicht einmal für die Versöhnung mit seinem größten Rivalen und dessen ambitionierter Ehefrau.