Es geht ein Gespenst um in Europa. Genauer gesagt in der Willy-Brandt-Straße 1, Berlin, dem Sitz des Bundeskanzleramts. Das Gespenst bleibt, wie es Gespenster an sich haben, vage und unkonkret. Diese Eigenschaften teilt das Gespenst mit dem Hausherrn, Bundeskanzler Olaf Scholz; wohl deswegen verstehen er und das Gespenst sich so gut.
Jedes Mal, wenn Scholz raunt, Russland sei eine Atommacht und es drohe eine "furchtbare Eskalation", beschwört er mehr oder weniger offen das Gespenst vom atomaren Schlag herauf: Wladimir Putin könne sich so in die Enge gedrängt fühlen, dass er auf den nuklearen Knopf drücke – und seine Raketen unvorstellbares Leid brächten, vielleicht gar nach Berlin.
Wie groß diese Gefahr ist, weiß niemand, vermutlich auch der Kanzler nicht. Es ist absolut vernünftig, sie in jede Kalkulation einzubeziehen. Allerdings ist auffällig, dass das Gespenst immer besonders laut beschworen wird, wenn es um Schritte geht, gegen die sich der Kanzler – und seine Partei – sträuben, aktuell etwa Lieferungen von Kampfpanzern. Jedem, der die Frage aufwirft, ob die nicht doch denkbar seien, schallt rasch entgegen: Man muss mitdenken, dass Russland eine Atommacht ist.
Dazu muss man mitdenken, wie atomare Abschreckung funktioniert: Sie beruht auf gegenseitiger Entschlossenheit. Auf die reagiert Putin übrigens durchaus. Waffenlieferungen in die Ukraine wollte er per Atom-Geraune verhindern, aber stoppen konnte er sie dadurch nicht. Die Nato-Mitgliedschaft von Finnland und Schweden mochte der Kreml-Zar nicht akzeptieren, jetzt hat er es doch getan. Wie glaubhaft ist seine Drohung also? Putin weiß, dass er einen eigenen Atomschlag kaum überleben würde. Natürlich könnte er völlig durchdrehen. Das könnte er aber auch, wenn wir gar nichts mehr für die Ukraine tun. Putin muss wissen, dass wir sein atomares Drohungsspiel durchschauen und uns nicht erpressen lassen – und der Ukraine die Hilfe bieten, die sie gerade braucht.
Ein Streitgespräch über die deutschen Medien mit Richard David Precht und Harald Welzer
Ich habe Richard David Precht schon 1997 kennenlernen dürfen. Wir waren beide in einem Austauschprogramm, er in Chicago, wo ich ihn besuchte. Richard war mit seiner Promotion fertig, er schrieb an einem Roman, dessen Anfang er gerne auswendig zitierte. Es gibt einen sehr schönen Zoo in Chicago, und so schlug ich einen Ausflug dorthin vor, denn ich gehe sehr gerne in Zoos. Ich konnte nicht damit rechnen, dass Richard David Precht der wohl größte lebende Zoo-Experte ist. Er führte mich stundenlang durch die Gehege, überschüttete mich begeistert mit Wissen, bis mein Kopf schwirrte, auch vor Ehrfurcht.
An diesen Zoo-Tag musste ich oft denken, als Precht immer berühmter wurde, aber auch immer stärker polarisierte. Schmalspur-Philosoph nannten ihn manche, vor allem jene, die gerne auch so viele Bücher verkaufen würden wie er. Seitdem Richard vor Monaten aber der Ukraine vorschlug, sie solle sich doch ergeben, hat er eine neue Polarisierungsstufe erklommen. "Putin-Versteher" nennen ihn manche.
Nun kann jeder nachlesen, wie wütend Precht und sein Co-Autor Harald Welzer darüber sind. In einem Buch gehen sie hart mit uns Medien ins Gericht, aber auch mit der Öffentlichkeit. Ist das Selbstinszenierung als Opfer, um noch mehr Bücher zu verkaufen? Oder ehrliche Sorge um den öffentlichen Diskurs? Und: Sollte ein Intellektueller sich zu jedem Thema äußern, selbst wenn er nicht der größte lebende Ukraine-Experte ist? Meine Kollegin Tina Kaiser und mein Kollege Tilman Gerwien wollten all dies von Precht und Welzer wissen. Ein angenehmes Gespräch ist es nicht immer gewesen. Aber ein nötiges, finde ich.
Herzlich Ihr
Gregor Peter Schmitz