Philipp Fontaine schaut auf die Uhr. Es ist zehn Minuten nach neun. Eine Viertelstunde wartet er nun schon auf seine Parteikollegin Mira Alexander. "Sie kommt gleich", sagt er, während er seinen schwarzen Stoffbeutel durchwühlt, der vor ihm auf dem Boden liegt. Um neun Uhr waren die beiden am Eingang der U-Bahn-Station Eppendorfer Baum verabredet.
Fontaine war bereits etwas früher da als verabredet, um alles vorzubereiten. Er hat Flyer zurechtgelegt, eine sogenannte Beachflag, eine zwei Meter große Werbefahne, aufgestellt und seine Jacke aufgemacht, damit man seinen Pullover sieht. Auf allem prangt ganz groß: Volt. Es ist die Partei, für die Fontaine, 30, und Alexander, 28, bei der Hamburger Bürgerschaftswahl am 23. Februar 2020 antreten. Sie als Spitzenkandidatin, er steht auf Listenplatz vier. An diesem Dienstagmorgen gehen die beiden auf Stimmenfang. NEON hat sie dabei begleitet.
Stimmenfang bei Hamburger Schietwetter
Alexander läuft schnellen Schrittes auf Fontaine zu. Die Absätze ihrer schwarzen Ankle Boots klackern auf den grauen Gehwegplatten. Sie umarmt ihn zur Begrüßung und beklagt sich anschließend übers Wetter: "Wahlen sollten grundsätzlich im Sommer stattfinden", sagt sie und lacht. Es ist ein ungemütlicher Morgen Anfang Februar. Es regnet, dazu weht ein frischer Wind bei kühlen vier Grad. Typisches Hamburger Schietwetter.

Doch Alexander und Fontaine haben es sich selbst ausgesucht. Sie wollen bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg die 5-Prozent-Hürde knacken. "Das ist natürlich unser Ziel", sagt Alexander. Deshalb stehen sie an diesem Morgen in der Nähe des Isemarktes in Eppendorf, dem größten Wochenmarkt Hamburgs. "Ein paar Stimmen abgreifen", wie Fontaine sagt. Drei Quadratmeter hat ihnen die Stadt dafür zur Verfügung gestellt. Zwischen dem Eingang der U-Bahn-Station, einem Bäcker und einem kleinen Kiosk dürfen sie vier Stunden lang Wahlkampf machen.
In dieser Zeit wollen sie die Passanten von Volt überzeugen. Mehr noch: Sie müssen erstmal auf die Existenz ihrer Partei aufmerksam machen. Denn obwohl Alexander und Fontaine das Ziel haben, in der nächsten Legislaturperiode in der Hamburger Bürgerschaft zu sitzen, realistisch ist es nicht. Dazu ist Volt noch zu unbekannt – was auch damit zusammenhängt, dass die Partei noch sehr jung ist.
Volt – eine junge, unbekannte Partei
Erst vor drei Jahren wurde Volt gegründet. Es begann mit einer europäischen Bewegung. Die drei Freunde Andrea Venzon, Colombe Cahen-Salvador und Damian Boeselager hatten genug vom weltweit wachsenden Populismus und Brexit. Sie schrieben ein Manifest, veröffentlichten es im Internet und bekamen überraschend viel Zuspruch.
Nach und nach bildeten sich lokale Gruppen. Es entstand eine Bewegung. Mittlerweile ist Volt in mehr als 30 Ländern aktiv, in einigen davon als Partei registriert. Bei der Europawahl im vergangenen Jahr eroberte Volt einen Sitz im europäischen Parlament. Nun tritt die Partei in Hamburg erstmals bei einer Landtagswahl an. Politisch liegt ihre Ausrichtung irgendwo zwischen SPD, FDP und Grünen. Volt spricht sich unter anderem für die Ausrufung des Klimanotstands, eine City-Maut und den Ausbau der digitalen Infrastruktur aus.
Wirklich revolutionär klingt das nicht. Das soll es auch gar nicht, sagt Alexander. "Die etablierten Parteien sind in ihrer Denkweise festgefahren. Wir versuchen, viel breiter zu denken – nicht nur sozialdemokratisch, konservativ oder liberal. Es geht darum, den europäischen Ansatz aufzugreifen – und auch regional umzusetzen." Auf Volts Wahlplakaten steht deshalb: "Hamburg, mach's wie Kopenhagen" oder "Hamburg, mach's wie Rotterdam". Die Hansestadt soll sich an diesen europäischen Städten orientieren. Oder wie Alexander sagt: "Wir wollen die Best-Practice-Beispiele finden – und auf Hamburg übertragen."
Volt will alles europäisch denken. Genau das hat Fontaine und Alexander überzeugt, in die Partei einzutreten. Beide seien vorher zwar politisch interessiert gewesen, aber nicht politisch aktiv. Es habe immer eine Partei gefehlt, mit der sie sich identifizieren konnten. Das sei nun anders, sagt Fontaine. "Es gibt keine Partei, die über die nationalen Grenzen hinausdenkt. Volt ist die erste. Das hat mich auch letztendlich überzeugt, da mitzumachen."
Was denken die Passanten?
Dafür treten die beiden nun sogar beruflich etwas kürzer. Fontaine arbeitet als Rechtsanwalt, Alexander als Projektmanagerin. Seit Tagen fokussieren sie sich fast ausschließlich auf die Partei und den Wahlkampf. Eine Veranstaltung folgt der anderen. Dementsprechend routiniert wirkt es, wie sie die Passanten vorm Eingang der U-Bahn-Station ansprechen.
Zu mehr als einem Hallo oder dem Überreichen des Flyers reicht es jedoch oft nicht. Nur die wenigsten bleiben stehen. Zu ihnen gehört Lara. Sie ist 24 Jahre alt, Kinderkrankenpflegerin und eigentlich mit ihrer Freundin zum Frühstück verabredet. Trotzdem nimmt sie sich einen Augenblick Zeit. "Ich weiß noch nicht, wen ich wählen will", sagt sie und schaut währenddessen auf den Flyer. "Ich kannte Volt vorher nicht. Es sieht aber nicht schlecht aus, was hier draufsteht." Sie werde es sich noch einmal in Ruhe anschauen, fügt sie hinzu und geht weiter.
Ähnlich reagieren auch zwei Erstwähler. Mit Kopfhörern im Ohr, kaugummikauend und Cappy im Gesicht sagen sie, dass sie bislang auch noch nichts von Volt gehört hätten. Die Stichpunkte auf dem Flyer läsen sich aber nicht schlecht. Sie wollen sich das Parteiprogramm zu Hause noch einmal anschauen, sagen sie.
Nach sicheren Stimmen klingt das nicht. Wie realistisch ist also der Einzug in die Hamburger Bürgerschaft? Spitzenkandidatin Alexander bleibt beim anfänglich erwähnten Ziel, fügt aber hinzu: "Wenn wir am Ende mehr als die 1,2 Prozent der Stimmen holen, die wir bei der letzten Europawahl 2019 in Hamburg erreicht haben, bin ich am Ende auch glücklich. Es geht ohnehin erst einmal darum, auf unsere Partei aufmerksam zu machen."