Vizekanzler Guido Westerwelle hat seinen Kritikern in der Hartz-IV-Debatte einen einseitigen Blick auf die Interessen der Langzeitarbeitslosen vorgeworfen. Es sei ein Fehler, nur noch über Verteilungsgerechtigkeit und nicht mehr über Leistungsgerechtigkeit zu reden, sagte der FDP-Chef in einem überraschend angesetzten Debattenbeitrag am Donnerstag im Bundestag. "Leistung muss sich lohnen, und wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet." Vordringlich sei es, Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen durch geringere Steuern zu entlasten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte zuvor Westerwelle in einem Zeitungsinterview vorgeworfen, er erwecke den Eindruck, mit der Debatte um Hilfen für Langzeitarbeitslose ein Tabu zu brechen. Tatsächlich sei die Diskussion über Hartz-IV-Sätze aber eine Selbstverständlichkeit.
Von der Leyen: "Kein Generalverdacht"
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) habe Deutschland bescheinigt, dass sich eine Arbeitsaufnahme oft deshalb nicht lohne, weil der Staat zu viele Abgaben und Steuern erhebe, sagte Westerwelle im Bundestag. Er verwies zugleich darauf, dass die Koalition von Union und FDP die Aufstockung des Schonvermögens der Hartz-IV-Empfänger beschlossen habe. Kritikern von SPD und Grünen hielt er zudem vor, in der früheren rot-grünen Koalition selbst die verfassungswidrigen Hartz-IV-Gesetze beschlossen zu haben.
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wandte sich in der Debatte gegen eine Pauschalverurteilung aller Hartz-IV-Empfänger. "Genauso wie es Steuerhinterziehung gibt, gibt es Missbrauch in Hartz IV", sagte die CDU-Politikerin in ihrer Rede. Aber deswegen dürften nicht alle Steuerzahler und Hartz-IV-Empfänger unter Generalverdacht gestellt werden.
Bei der Reform von Hartz IV müsse vor allem die Förderung der Kinder berücksichtigt werden, forderte von der Leyen weiter. Sie bräuchten Zuwendung, Förderung und frühe Perspektiven. "Da müssen wir Akzente setzen, nach vorne denken." Die Ministerin räumte ein, dass dabei zusätzliche Kosten entstehen und betonte zugleich: "Wenn wir mehr Geld einsetzen, möchten wir auch, dass es bei der Förderung der Kinder ankommt." Unterstützung erhielt von der Leyen dabei von den Grünen, die in einem Antrag feststellten, dass die aktuellen Regelsätze für Kinder und Erwachsene nicht bedarfsdeckend und nicht existenzsichernd sind. Sie verlangten die Einsetzung einer unabhängigen Kommission zur Neuberechnung.
"Sie machen Arbeitnehmer zu Deppen der Nation"
Der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion Klaus Ernst nannte es mit Blick auf Westerwelles Äußerungen über "anstrengungslosen Wohlstand" und "spätrömische Dekadenz" einen Skandal, die knapp sieben Millionen Empfänger von Arbeistlosengeld II als arbeitsscheu zu diffamieren. Die wahren Leistungsverweigerer in Deutschland lebten nicht von Hartz IV, sondern seien Steuerhinterzieher und Spekulanten. Ernst bilanzierte, dass die Arbeitsmarktreformen die Löhne insbesondere von Geringverdienern gedrückt haben. Notwendig sei daher ein flächendeckender, gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro in der Stunde. An Westerwelle gerichtet sagte er: "Sie machen die Arbeitnehmer zu den Deppen der Nation, wenn Sie Ihnen den Mindestlohn verweigern."
Die SPD-Abgeordnete Anette Kramme warf Westerwelle vor, Langzeitarbeitslose an den Pranger zu stellen und Arme gegen Arme in Stellung zu bringen. Tatsache sei jedoch, dass die meisten Erwerbslosen "fast alles dafür tun würden", wieder einen Job zu bekommen. Auch sie verlangte einen gesetzlichen Mindestlohn und einen entschlossenen Kampf gegen den Missbrauch von Leiharbeit.