Wenn man wissen will, wie ein Mensch aussieht, der gleich vor Wut zu platzen droht, dann muss man in diesen Tagen nur Michael Naumann betrachten. Der Mann ist 66 Jahre alt, hat viel gesehen und erlebt und ist eigentlich ein recht gelassener Typ. Ein Hanseat, nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.
Am Wahlsonntag hat Naumann für die SPD in Hamburg 34,1 Prozent geholt. Das ist nicht wirklich schlecht. Es sind 3,6 Prozentpunkte mehr als vor vier Jahren. Es liegt im Bereich des neuerdings Üblichen für Sozialdemokraten: 30 Prozent und ein paar Zerquetschte. Mal kriegen sie etwas mehr, mal etwas weniger. Es ist zu viel zum Sterben und zum Regieren zu wenig, in der Regel jedenfalls. Aber man ist bescheiden geworden in der SPD. Kurt Beck fand deshalb, das sei "ein großartiges Ergebnis".
Michael Naumann fand es zum In-die- Luft-Gehen. Den gesamten Sonntag über war er für seinen Parteichef nicht zu sprechen. Das Gratulationsgesülze, beschied der Kandidat a. D., könne Beck sich sparen. Und seine Blumen, die er tags darauf üblicherweise dem Spitzenmann überreiche, erst recht. Für die anberaumte Pressekonferenz mit Beck, der ihm mit seiner Öffnung zur Linkspartei den Wahlkampf verhagelt hatte, stehe er nicht zur Verfügung, grollte Naumann. "Drei Prozent hat der uns gekostet." Noch auf der Zugfahrt von Hamburg nach Berlin kündigte er am Montag an: "Der kriegt was zu hören."
Beck zog sich aus dem Verkehr
Kriegte der dann doch nicht, jedenfalls nicht direkt. Beck, dem der Journalist Naumann vor zwei Jahren in der "Zeit" noch "Härte, Schläue und natürliche Intelligenz" attestierte, hatte sich über Nacht aus dem Verkehr gezogen. Der Vorsitzende liege flach, heftige Grippe, vier bis fünf Tage Schonung nötig, vermeldete das Bulletin. Er kriegte am Montagmorgen kaum noch einen Ton heraus. "Er hatte jetzt die Wahl, komplett umzukippen oder sich einfach mal ins Bett zu legen", sagte sein Sprecher.
Falls es keine echte Krankheit gewesen wäre, hätte es ein akuter Anfall von politischer Klugheit sein können, der Beck daran hinderte, an der Sitzung des SPD-Vorstands teilzunehmen. Nur nicht die innerparteiliche Diskussion noch weiter aufheizen. Er weiß ja selbst am besten, wie er tickt. Wenn er angegriffen wird oder sich ungerecht behandelt fühlt, reagiert Beck gereizt, gelegentlich unbeherrscht. Er wird dann auch mal laut. Das sei etwas unangenehm, befand die Kanzlerin neulich spitz. Kontraproduktiv kann es auch sein.
Jedenfalls flog Beck am Montag zurück nach Mainz und fuhr stracks zum Arzt. Dr. Günter Gerhardt. Der kennt Beck bereits seit 30 Jahren und gibt im ZDF Tipps, wie man auf dem Damm bleibt.

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Gute Besserung also, Herr Beck. Sein Rückzug trug jedenfalls zur zwischenzeitlichen parteiinternen Deeskalation bei, wie zuvor am Sonntagnachmittag sein Kotau vor den SPD-Granden. In einer Schaltkonferenz mit den SPD-Landesvorsitzenden hatte Beck sich zerknirscht gegeben, um seinen Kopf zu retten. Einen "schwerwiegenden Fehler" habe er da begangen, gab Beck zu. Das tue ihm leid.
Allerdings meinte Beck damit nicht seinen historischen Tabubruch vom Montag zuvor, sein Okay, dass sich Andrea Ypsilanti im äußersten Notfall auch mit Stimmen der Linken zur hessischen Ministerpräsidentin wählen lassen darf. Der Fehler war aus seiner Sicht, dass er den handstreichartigen Plan zur Unzeit publik werden ließ - und keinen eingeweiht hatte.
Am Sonntag versuchte die SPD-Spitze, den Schaden zu begrenzen. Während die Hochrechnungen aus Hamburg eintrudelten, bereiteten Beck, Frank-Walter Steinmeier und Co. einen formellen Beschluss des Parteivorstands vor. Kernaussagen: Im Bund geht nichts mit der Linken. Und in Hessen wird man sehen. Was genau geschieht, entscheiden die Betroffenen vor Ort. Als Einziger stimmte der niedersächsische SPD-Chef Garrelt Duin dagegen.
Linke soll SPD tolerieren
Ist damit beschlossen, dass sich die SPD die Option offenhält, von der Linken toleriert zu werden? "Im Grunde: ja", sagt Björn Böhning, Sprecher des linken SPD-Flügels. Also war das, was Beck gesagt hat, nicht falsch, er hat es nur zum falschen Zeitpunkt gesagt? "Ja", sagt Böhning.
Vordergründig hat der Machtmensch Kurt Beck sich damit durchgesetzt, wieder einmal. Wie beim Arbeitslosengeld I, als er gegen den Widerstand des damaligen Arbeitsministers Franz Müntefering und seiner Vize Steinmeier und Peer Steinbrück seinen Willen bekam. Aber der Preis könnte diesmal hoch sein, verdammt hoch. Für die SPD und für Beck. Parteichef und Partei haben nun ein riesiges Glaubwürdigkeitsproblem, "da darf man sich nichts vormachen", warnt Steinbrück.
Dieses Problem lässt sich mit dem schönen alten Sprichwort beschreiben: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht - auch wenn er dann die Wahrheit spricht.
Wieso sollte er Wort halten?
Wieso sollte ein Wähler darauf vertrauen, dass ein SPD-Kanzlerkandidat Beck 2009 sich nicht mit Unterstützung der Linken ins Amt wählen lässt, wenn es anders nicht reicht? Wieso soll er im Bund Wort halten, wenn er es auf Landesebene bricht? Hatte Beck nicht vor Kurzem noch hoch und heilig versichert, Andrea Ypsilanti werde auf gar keinen Fall, unter gar keinen Umständen mit links zur Ministerpräsidentin gekürt? Doch, hatte er. Erfahrenen Genossen graust vor dem Tag, an dem das wirklich geschehen könnte: "Dann fängt das Theater erst richtig an. An der Basis ist dann die Hölle los."
Schon jetzt droht Beck ein Verfall seiner Autorität. Man muss dazu nur auf die kleinen Gesten achten. Kleine Gesten sagen oft mehr als große Worte. Sonntagabend in der Berliner SPD-Zentrale. Auf der Bühne gibt es eine Premiere. Kurt Beck hat die gesamte engere Parteiführung genötigt, sich auf dem Podium demonstrativ hinter ihn zu stellen. Da stehen sie nun aufgereiht, Steinbrück und Steinmeier und Fraktionschef Peter Struck, und die Kameras filmen ihre mühsam auf unbewegt gestellten Mienen, während Beck ins Mikrofon kraftmeiert: "Wir haben die richtigen Themen." Ach ja: Falls er selbst in den jüngsten Tagen zu "Irritationen" beigetragen haben sollte, bedauere er dies; er sehe allerdings "kein Anzeichen, dass in dem Wahlergebnis ein merkbarer Effekt enthalten ist".
So also hört es sich an, wenn Kurt Beck öffentlich einen Fehler einräumt. Und die Genossen hinter ihm? Die klatschen. Müssen klatschen. Schließlich wird das hier im Fernsehen übertragen. So was nennt man eine öffentliche Vorführung. Ganz großes Theater. Schmierentheater.
Struck gibt nichts drauf
Als Struck wieder aus dem Blickfeld der Kameras ist, macht er eine dieser kleinen Gesten, die mehr sagen als Worte. Es ist eine Geste, für die Fußballer die Gelbe Karte kriegen. Eine kurze, wegwerfende Handbewegung. Wer Struck etwas näher kennt, ahnt, was ihm jetzt durch den Kopf geht. Es sind Ausdrücke, die man seinen Kindern zu Hause strengstens untersagt.
Struck muss aber auch gar nichts sagen. Es ist auch so überdeutlich: Die SPD steckt wieder da, wo sie sich ziemlich gut aus kennt - in einer Krise. Denn rapider als der Mainzer Ministerpräsident mit seinen alle überrumpelnden linken Lockerungen hat sich selten ein Spitzenpolitiker um seine Reputation gebracht und seine Partei auf die Zinnen. Denn was Beck da am Montag voriger Woche mal eben nebenbei in einem lockeren Gespräch mit Journalisten ausgeplaudert hatte, bedeutet ja nicht nur einen Tabubruch. Es ist eine Abkehr von allen heiligen Schwüren des Parteivorsitzenden Beck. Und eine Provokation eines nicht unerheblichen Teils der Genossenschaft.
War es Tölpelhaftigkeit? Taktik? Oder gar Strategie? Die Einsicht, dass die Linke nicht mehr wegzukriegen ist und die SPD auf Dauer als Juniorpartner der Union in großen Koalitionen kaputtschrumpft, sollte sie die real existierenden linken Mehrheiten auf ewig ungenutzt lassen? Die Erkenntnis, dass rot-rote Bündnisse in Westländern unweigerlich kommen werden - schon 2009 im Saarland möglicherweise oder 2010 in Nordrhein-Westfalen?
Der größte Umfaller
Zumindest war es der größte Umfaller, seit Helmut Kohl im Wahlkampf 1990 erst so getan hatte, als wäre die Wiedervereinigung aus seiner Westentasche zu bezahlen - um wenige Wochen nach Schließung der Wahllokale zu verkünden, dass nun leider doch die Steuern auf Einkommen, Benzin, Tabak und Erdgas erhöht werden müssten.
Ausgerechnet Beck. Der die Linken irre findet. Der so virtuos auf seinen konvertierten Ex-Parteichef Oskar Lafontaine einteufeln kann. Der es richtig persönlich nahm, dass die damals noch unter WASG firmierende Linke ihn im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz bekämpfte. Dem man seine Abscheu vor den SED-Erben abzunehmen bereit war. Im Juni 2007 hatte Beck im stern richtig losgeledert. Warum scheidet eine Koalition im Bund mit der Linkspartei aus?, lautete eine Frage.
"Schauen Sie sich doch mal dieses Sammelsurium im Westen an. Da waren viele schon in mehr K-Gruppen, als ich Anzüge im Schrank habe ... Spiele zulasten der Republik gibt es mit mir nicht."
Vorbild Brandt
Die Linke beruft sich sogar auf Brandt. "Er würde sich dagegen verwahren, dass ihn Leute vereinnahmen, die dabei waren, als die Freiheit mit Füßen getreten und mit Waffengewalt hinter einer Mauer eingesperrt wurde."
Wie halten Sie es mit Linkskoalitionen in den westdeutschen Bundesländern? "Wir haben eine klare Leitlinie: nicht mit denen im Westen. Die gilt." Sie galt. Jetzt ist Beck bereit, die Linke als Mehrheitsbeschafferin zu akzeptieren. Sicher: nur im Notfall vorerst, aber doch.
Verheerend ist dabei gar nicht so sehr, dass Beck seine Meinung geändert hat. Das kann vorkommen. Manchmal ist das nötig, manchmal sogar vernünftig. Man kann sich ja mal verrannt haben. Verheerend ist, wie er die Kehrtwende eingeleitet hat: verdruckst, mit erkennbar schlechtem Gewissen und mit einer Lügenrhetorik ("keine aktive Zusammenarbeit"). Falls man den verhassten Ministerpräsidenten Roland Koch gar nicht anders als mit der Linken abgewählt bekomme, dürfe man das nicht so defensiv machen, argumentiert ein Ypsilanti-Berater. Dann müsse man sagen, dass man das Wahlversprechen "Ohne links" nicht halten könne, weil die anderen Parteien ja blockieren würden.
Wenn schon Wortbruch, dann ehrlich. Und Becks Vorvorgänger Franz Müntefering knöterte vor der Abschlusskundgebung in Hamburg: "Man muss sich das alles genau überlegen. Und dann muss man das absprechen."
Setzen, sechs!
Übersetzt heißt das: Beck hat weder das eine noch das andere getan. Setzen, sechs! Selbst in Becks Umfeld geben sie zu, dass der Chef in diesem Fall alles missachtet hat, was er sich sonst auf die Fahnen geschrieben hat: offene Diskussionen, die Leute mitnehmen, keine Alleingänge.
"Ein vollkommenes Kommunikationsdesaster", urteilt Jürgen Walter, der frühere SPD-Fraktionschef in Hessen. "Das hat uns richtig reingerissen." Die hessischen Genossen hatten sich, obwohl über Jahrzehnte in Selbstzerfleischung geübt, im Zaum gehalten, nicht gestritten, keine Spekulationen genährt, nichts. Ihr Plan war es, die FDP zu zermürben, sie doch noch in eine Ampelkoalition zu manövrieren - auch mithilfe von Druck aus der Wirtschaft. "Die Strategie hat uns Beck verhagelt", klagt ein Spitzengenosse. "Die wollen natürlich lieber uns den Wortbruch überlassen. Und wir haben als Erste gezuckt."
Man könnte auch sagen: Beck hat zuerst die Nerven verloren. Es war das Gegenteil politischer Führungskunst. Und nichts kann dem Mann, der nächstes Jahr Kanzler werden will, mehr schaden als weitere Zweifel an seiner Eignung für Aufgaben jenseits eines Provinzfürsten in der Pfalz.
Die SPD dürfe den "Schub" aus der Hessen-Wahl nicht ungenutzt lassen, hatte Beck seine Linkswende begründet. Dank seiner Ausplauderei ist es eher ein Gegenschub geworden. Was der im falschen Moment auslösen kann, weiß man aus der Luftfahrt: eine Katastrophe.
Mitarbeit: Dorit Kowitz, Ulrike Posche, Franziska Reich