Es mag vielleicht 99 Sorgen geben, die sich Deutschland im Angesicht der Coronakrise machen kann – aber dass es zwischen seinen beiden obersten Seuchenbekämpfern knirschen könnte, ist keine davon. Betont abgeklärt versuchten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), am Mittwoch etwaige Deutungen der letzten 24 Stunden zu zerstreuen: von einem Dissens, gar einem Konkurrenzkampf zwischen Politik und Wissenschaft, ob nun mehr oder weniger Härte im Kampf gegen die Pandemie geboten ist.
"Hier kam erstmal die Frage, ob ich zu Herrn Wieler noch stehe", sagte also Lauterbach. "Das lässt sich leicht beantworten: Sonst säße er hier nicht." Wieler gluckste ins Mikrofon: "Sie sitzen aber auch momentan." Lauterbach gluckste zurück: "Genau." Da sitzen zwei im selben Boot, Botschaft angekommen.
Tatsächlich saß Wieler wieder in der Bundespressekonferenz neben dem Bundesgesundheitsminister, der mittlerweile Lauterbach heißt und einen Tag zuvor wohl eher nicht zum Blödeln aufgelegt war.
Wielers Institut hatte mehrere Empfehlungen formuliert, pochte darin auf "maximale Kontaktbeschränkungen" die "sofort beginnen sollten". Der Zeitpunkt der Veröffentlichung warf Fragezeichen auf und bot Anlass für Spekulationen: Bund und Länder waren in Begriff, Maßnahmen ins Werk zu setzen, die hinter den Forderungen des RKI zurückbleiben würden. Ein kalkulierter Affront? Sah sich Wieler veranlasst, eine Protestnote zu platzieren? Immerhin machte der RKI-Chef zuletzt den "Papagei" als sein Spirit Animal aus, beklagte, dass seine Warnungen einfach nicht mehr gehört würden.
Alles business as usual, kein Zerwürfnis, allenfalls eingepreistes Ruckeln bei der Umsetzung des gemeinsamen Ziels, das Virus zu bekämpfen, mühten sich Lauterbach und Wieler durch die Fragen zur Angelegenheit. Differenzen wurden dennoch deutlich.
Vom ewig-alarmierten Warner zum milden Mahner
Gleich zu Beginn des gemeinsamen Auftritts schilderte Lauterbach, wie sich die Pandemiebekämpfung "aus Sicht der Bundesregierung" darstelle: eigentlich ganz gut.
Es sei gelungen, die vierte Welle in den Griff zu bekommen. Die Fallzahlen würden sinken, die Maßnahmen nachhaltig wirken. Wenngleich mit einer fünften Welle durch die Omikron-Variante gerechnet werden müsse. Wieler hingegen betonte, der nach dem Gesundheitsminister das Wort ergriff, was alles "immer noch" besorgniserregend sei: die Inzidenz ("immer noch zu hoch"), die Auslastung der Kliniken ("immer noch am Limit"), die Covid-Patienten auf den Intensivstationen ("immer noch auf hohem Niveau"). "In den vergangenen Wochen waren die Fallzahlen rückläufig, aber leider ist das noch kein Zeichen für eine Entspannung", so der RKI-Chef.

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Die Lage ist unverändert ernst, sollte das heißen. Das sieht auch Wielers Dienstherr so. Nur sind dessen einst allzu deutlichen Warnungen (etwa hier, hier, hier und hier) mit seiner neuen Funktion eher milden Mahnungen gewichen.
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Zum Weihnachtsfest vor einem Jahr stellte Lauterbach fest, seinerzeit einzig ewig-alarmierter SPD-Gesundheitsxperte: "So können wir nicht Weihnachten feiern." Angesichts von 30.000 Neuinfizierten und 600 Toten an einem Tag könnten weder Lockerungen zu Weihnachten noch zu Silvester gelten. Nun, ein Jahr später, versprach Lauterbach: "Nein, einen Lockdown wie in den Niederlanden vor Weihnachten – den werden wir hier nicht haben." Am Donnerstag registrierte das RKI binnen eines Tages 44.927 Corona-Neuinfektionen und 425 Todesfälle. Das, was nun beschlossen wurde, "erzielt Wirkung", versicherte der nunmehr Gesundheitsminister am Dienstagabend. "Aber wir schließen nichts aus." Es gebe "keine roten Linien".
Ob Wieler mit den Beschlüssen zufrieden sei? "Völlig irrelevant", so der RKI-Chef. Die Maßnahmen seien "stringenter" und das sei "sehr gut". Doch sein Institut gebe lediglich Empfehlungen heraus, die Umsetzung ist dann "Aufgabe der Politik." Insofern sei auch das Papier seines Instituts, das durch deutlich härtere Forderungen auffiel, keine Besonderheit gewesen: Die Beschlussgrundlage des Corona-Expertenrats sei eine Analyse der Situation gewesen, das RKI habe daraufhin konkrete Empfehlungen abgegeben – insofern stünden die Papiere "in keinem Widerspruch".
Wer hat Recht?
Dabei ist allerdings ein Eindruck entstanden, der Zweifel an dem neu geschaffenen Gremium aufkommen lässt. Der Expertenrat, in dem auch das RKI vertreten ist, sollte eigentlich die unterschiedlichen Sichtweisen im Kampf gegen die Krise in eine gemeinsame Position gießen. Aber macht er den Kurs in der Pandemiebekämpfung wirklich verständlicher, wenn einzelne Mitglieder nach den Beratungen offensichtlich noch etwas loswerden müssen?
Dem Gesundheitsminister war am Mittwoch jedenfalls sehr daran gelegen, die Beratungen des Expertenrats nicht als eine Einigung auf den "kleinsten gemeinsamen Nenner abzuqualifizieren." Vielmehr habe sich das Gremium in vielen Punkten "sehr klar" positioniert. Und doch konnte Lauterbach seine Irritation über den Vorstoß des RKI nicht verschleiern: Die wissenschaftlichen Auswertungen hätten ihn vor der Sitzung nicht mehr erreicht, erklärte Lauterbach, "da wird die Abstimmung noch optimiert werden." Er wolle aber "ausdrücklich" darauf hinweisen, dass auch das RKI eine "ganz zentrale Quelle" seiner Arbeit sei.
Dass der Forderungskatalog des RKI für derart großen "Wumms" sorgen würde, sei Wieler angeblich nicht bewusst gewesen. "Ich verfolge die Nachrichten nicht so sehr, wie Sie das vielleicht glauben", antwortete er auf eine entsprechende Frage. Er mache lediglich seine Arbeit, die wissenschaftlich fundiert sei. Für den Chef von Deutschlands oberster Seuchenbehörde, der die Bundesrepublik seit zwei Jahren über die Qualen nach Zahlen informiert, klang das etwas einfältig. Allein: Seit November gibt es "plötzlich einen neuen Lothar Wieler", wie der "Tagesspiegel" schlagzeilte. Während einer Online-Schalte mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) bekannte der eher in sich ruhende RKI-Chef, er könne es nach 21 Monaten "schlichtweg nicht ertragen, dass es nicht erkannt wird, was ich sage und auch viele anderen Kollegen."
Obwohl Lauterbach und Wieler an einem gemeinsamen Strang ziehen, wie sie am Mittwoch betonten, bleibt der Eindruck: In der Frage, welche Maßnahmen nun geboten sind, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die Preisfrage: Wer hat Recht? Ein kleiner Zwist zwischen den Anti-Corona-Managern dürfte da die geringste Sorge sein.