Die Lage ist ernst, unverändert. Zehntausende sind in Deutschland am Coronavirus gestorben. "Darüber kann man nicht hinwegreden und auch nicht hinwegsehen", mahnt Olaf Scholz. Er betont: "Das, was wir jetzt brauchen ist Klarheit und Konsequenz." Es muss gehandelt werden. Gegen das "viele Durcheinander", gegen das Virus. "Und das gehört zu Klarheit und Konsequenz dazu – überall in Deutschland und auch immer und in jedem Fall."
Es ist ein eindringlicher Appell, den Vizekanzler Scholz am 21. April 2021 im Bundestag formuliert. An jenem Mittwoch wurde das Bundesinfektionsschutzgesetz beschlossen, eine Bundesnotbremse bei hohen hohen Infektionszahlen eingeführt. Seitdem ist viel passiert.
Scholz ist mittlerweile Bundeskanzler, Deutschland zählt mehr als 109.000 Corona-Tote (im April waren es noch 80.000) und versucht die inzwischen vierte Infektionswelle zu brechen. Die größte Sorge gilt nun einer Virusvariante namens Omikron und nicht mehr Delta – die den seither gemachten Impffortschritt praktisch in den Wind schlägt. Wirklich belastbar scheint nach wie vor nur sein: Die Lage bleibt unverändert ernst.
Und so ist in diesen Tagen wieder Konsequenz gefragt. "Corona macht keine Weihnachtspause", sagte Scholz nach den Beratungen mit den Ministerpräsident:innen am Dienstag. Bund und Länder haben Kontaktbeschränkungen beschlossen, auch für Genesene und Geimpfte, Tanzveranstaltungen untersagt und Feuerwerke abgesagt (lesen Sie hier die Beschlüsse im Überblick). Und das alles sehr "einvernehmlich", wie nach der Ministerpräsidentenkonferenz nicht nur vom Kanzler mantrahaft betont wurde, im Einklang mit den "klaren" Ratschlägen des wissenschaftlichen Expertenforums.
Klar zutage getreten sind allerdings die Differenzen, die offenbar immer noch zwischen Teilen der Politik und Wissenschaft bei der Definition von einer konsequenten Pandemiebekämpfung herrschen.
Die Krux in der Corona-Kommunikation
Um 12.10 Uhr, wenige Stunden vor der Bund-Länder-Schalte, legte das Robert Koch-Institut (RKI) mehrere Empfehlungen vor, die "maximale Kontaktbeschränkungen" beinhalten und "sofort beginnen sollten" – also auch schon vor Weihnachten und nicht erst danach, wie es Bund und Länder später beschließen sollten. Die Grundlage dafür lieferte der Corona-Expertenrat des Kanzlers, zu dem auch das RKI gehört. Wie passt das zusammen?
Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Vorsitzender der Bund-Länder-Runde, räumte später eine "chaotische" Informationslage ein, die auch zu "Verunsicherung" geführt habe. Eher diplomatisch erklärte er, dass die Empfehlungen des RKI mit den Auffassungen der Bundesregierung "in einigen Teilen" nicht übereinstimmten. "Ich lege viel Wert auf die wissenschaftliche Beratung auch durch das RKI", erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Abend, "wir arbeiten Hand in Hand. Aber im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit des RKI kann es auch schon mal eine Forderung geben, die wir nicht sofort umsetzen."

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Das Problem ist offensichtlich wie altbekannt: Wissenschaftler formulieren, was im Kampf gegen das Coronavirus geboten wäre – und Politiker müssen dies in konkrete Maßnahmen übersetzen, die von der Gesellschaft mitgetragen und bestenfalls auch verstanden werden. Entstanden ist nach Ansicht von Links-Fraktionschef Dietmar Bartsch ein "kommunikatives Desaster": Das RKI drängt auf schärfere und schnellere Maßnahmen, Bund und Länder setzen aber laschere ins Werk.
Die Empfehlungen des RKI seien nicht abgestimmt gewesen, soll Gesundheitsminister Lauterbach laut Medienberichten in der Bund-Länder-Runde gesagt haben. Das dürfe nicht passieren. Warum es dennoch passiert ist, bietet Anlass zu Spekulationen. RKI-Präsident Lothar Wieler beklagte zuletzt, dass Warnungen nicht mehr gehört würden. Er fühle sich wie ein "Papagei", sagte er hier, er könne es nach 21 Monaten "schlichtweg nicht ertragen, dass es nicht erkannt wird, was ich sage und auch viele anderen Kollegen", sagte er dort. Die jüngsten RKI-Empfehlungen würden den Eindruck unterstreichen, dass Wieler möglicherweise nicht mehr gewillt ist, sich mit klaren Ansagen zurückzuhalten. Die verwirrende Kommunikation dürfte auch Thema bei der Bundespressekonferenz um 12.30 Uhr am heutigen Mittwoch sein, wenn sich Wieler und Gesundheitsminister Lauterbach gemeinsam zur Coronalage äußern.
Die Kommunikation in der Coronakrise ist eine Krux, die der Deutsche Ethikrat nun ausbuchstabiert hat: "Der ständige Lern- und Anpassungsprozess in einer sich so schnell verändernden wie unberechenbaren Pandemie ist nicht leicht zu kommunizieren." Das Infektionsgeschehen sei dynamisch, die Informationsstände würden sich kontinuierlich wandeln, heißt es in einer Stellungnahme.
Es ist indes auch eine Erklärung des Rates, warum er seine Meinung zu einer allgemeinen Impfpflicht geändert hat – und sich nun für eine solche ausspricht: Die Faktenlage habe sich verändert, Virusvarianten wie Omikron und erwartbar weitere Varianten des Virus "nötigen Sachverständige dazu, ihre Einschätzungen zum künftigen Pandemieverlauf immer wieder aufs Neue zu revidieren." Dies sei innerhalb des Wissenschaftssystems "gängige Praxis, führte aber in Politik und Medien teils zu Irritationen und Missverständnissen."
Konsequenz und Klarheit forderte Scholz noch als Vizekanzler im Kampf gegen Corona ein. Ihm dürfte bis heute daran gelegen sein. "Ich kann jeden und jede verstehen, die nichts mehr hören will von Corona, von Mutationen und neuen Virusvarianten", sagte er am Dienstag. "Doch wir können unsere Augen nicht vor der Welle verschließen, die sich vor uns auftürmen wird." Die Lage ist unverändert ernst.