Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen Historiker warnt vor AfD-Erfolg nahe KZ-Gedenkstätte: "Wir erleben einen erinnerungskulturellen Klimawandel"

Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
© Martin Schutt / DPA
In Nordhausen könnte an diesem Sonntag der AfD-Politiker Jörg Prophet zum Oberbürgermeister gewählt werden. Nur fünf Kilometer vom Rathaus steht die Gedenkstätte KZ Mittelbau-Dora. Wie denkt man dort über den aussichstreichen Kandidaten?

Professor Wagner, als Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora haben Sie sich festgelegt: Sollte Jörg Prophet Oberbürgermeister werden, wollen Sie ihn nicht zu Ihren Veranstaltungen einladen. Daran gab es auch Kritik, zum Beispiel, dass ein Gedenkstättendirektor parteipolitisch neutral sein müsse. Können Sie das verstehen?
Unsere Neutralität endet genau da, wo die Menschenwürde und unser Stiftungsauftrag verletzt werden. Und wenn jemand die Leiden der Opfer in Frage stellt, können wir gar nicht neutral sein. Jörg Prophet hat sich mehrfach geschichtsrevisionistisch geäußert – also versucht, die nachgewiesenen Verbrechen der NS-Zeit kleinzureden. Ich bin durch unser Stiftungsgesetz verpflichtet, die Orte dieser Verbrechen und ihre Opfer vor genau solchen Positionen zu schützen.

Prophet schreibt zum Beispiel: „Von Moral war bei den Siegern ebenso wenig zu spüren wie bei den Nationalsozialisten.“
Die Morallosigkeit, die die Amerikaner bei der Befreiung Mitteleuropas angeblich gezeigt haben sollen – das ist eine Schuldumkehr, die wir aus dem klassischen geschichtspolitischen Rechtsextremismus kennen.

Auf der AfD-Internetseite schreibt Prophet außerdem, in Nordhausen habe sich „das wahre Gesicht der Befreier“ gezeigt: Die amerikanischen Soldaten seien nur ins KZ Mittelbau-Dora gekommen, um die unterirdischen Rüstungsproduktion einzunehmen.
Das ist komplett abwegig. In Nordhausen konnten die Amerikaner tatsächlich nur relativ wenige Überlebende des KZ vor Ort befreien, weil die meisten auf Todesmärsche geschickt worden waren. Aber die verbliebenen, ungefähr 500 Häftlinge wurden von den Amerikanern hingebungsvoll umsorgt, sie haben sofort medizinische Einheiten herangezogen, und so den meisten das Leben gerettet. Hier von Morallosigkeit zu sprechen, ist letzten Endes ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die das erleiden mussten.

Prophet fordert „nach 75 Jahren den Wandel vom Schuldkult zum Demokratiekult.“ Wie ordnen Sie das ein?
Der Begriff des „Schuldkults“ ist ein Kampfbegriff der extremen Rechten, den wir schon länger aus der NPD kennen und der dann auch von der AfD übernommen wurde, um die Erinnerungskultur und die Arbeit der Gedenkstätten zu diskreditieren. Herr Prophet wirft immer wieder Schlagworte ein, die auf rechtsextreme, geschichtsrevisionistische Geschichtslegenden verweisen, ohne sie explizit auszusprechen. Aber die entsprechenden Adressaten verstehen das schon. Ich habe viele seiner Pamphlete gelesen und sehe bei ihm eine krude Mischung aus diesem geschichtsrevisionistischen Rechtsextremismus der BRD der 50er Jahre – zum Beispiel setzt er den industriellen Massenmord in Auschwitz mit den britischen Luftangriffen auf deutsche Städte gleich oder raunt vom Morgenthau-Plan. Gleichzeitig verbreitet er einen ausgeprägten Antiamerikanismus, der stark durch DDR-Geschichtsbilder geprägt ist.

Im ersten Wahlgang erhielt der AfD-Kandidat mit Abstand am meisten Stimmen. Es ist zumindest wahrscheinlich, dass er am Sonntag gewählt wird.  Selbst, wenn Sie ihm verbieten, zu Ihren Veranstaltungen zu kommen, werden Sie ihm wohl doch in ihrer Arbeit begegnen.
Auch wenn wir finanziell nicht von der Stadt abhängig sind, gibt es doch eine gemeinsame Arbeitsebene. Und da wird‘s mit einem Oberbürgermeister der AfD deutlich schwieriger. Es gibt zum Beispiel einen großen Ehrenfriedhof in Nordhausen, auf dem fast 2500 tote KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter bestattet wurden. Ein Friedhof, der zurzeit von der Stadt würdig umgestaltet wird. Die AfD hat bereits angekündigt, dass sie diese Umgestaltung stoppen will. Dann sind wir gerade dabei, die Stollenanlage im Mittelbau-Dora, in der die Häftlinge über Monate unter entsetzlichen Bedingungen leben mussten, didaktisch neu zu erschließen. Und ein Teil dieser Anlage gehört der Stadt Nordhausen. Theoretisch könnte der Oberbürgermeister morgen sagen: „Jetzt ist damit Schluss.“

Sie haben bisher auch in der Erinnerungsarbeit eng mit der Stadt Nordhausen kooperiert. Was steht da auf dem Spiel?Es hat immer gemeinsame Veranstaltungen gegeben. Insbesondere zu den runden Jahrestagen der Befreiung des KZ, da waren zum Teil Hunderte von Überlebenden in der Stadt, die dann auch ins Theater eingeladen wurden, das von der Stadt betrieben wird. Würde Herr Prophet Oberbürgermeister, wäre dieses über Jahre aufgebaute Vertrauen zwischen der Stadt und den Überlebenden mit einem Schlag kaputt. Uns erreichen derzeit extrem besorgte Schreiben, unter anderem vom französischen Verband der Überlebenden des KZ, die sagen: Sollte in der Stadt ein Geschichtsrevisionist Oberbürgermeister sein, können sie nicht mehr nach Nordhausen kommen, um dort um ihre toten Angehörigen zu trauern.

Wie kann es überhaupt sein, dass die Nordhäuser mit einem solchen Kandidaten liebäugeln? Sie empfangen in der Gedenkstätte Bürger der Stadt, haben Schulklassen zu Besuch. Beobachten Sie dort auch eine solche Verharmlosung der NS-Zeit?
Ja, aber das ist ganz bestimmt kein Phänomen dieser Stadt. Wir erleben zurzeit einen erinnerungskulturellen Klimawandel. Dinge, die vor Jahren nicht sagbar waren, sind sagbar geworden. Der Diskurs hat sich ganz eindeutig nach rechts verschoben. Und Geschichtsrevisionismus gilt vielen in Deutschland nicht mehr als ein Tatbestand, der jemand unwählbar macht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Aiwanger-Debatte in Bayern: Vor zehn Jahren hätte sich so jemand wie Aiwanger mit derart belastenden Indizien nicht halten können. Und was passiert jetzt? Er geht auch noch gestärkt aus der Affäre hervor.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Gerade ist die neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgekommen, die zeigt, dass immer mehr Bürger rechtsextremen Ansichten zustimmen. So hat sich die Zahl der Menschen, die die Verbrechen der Nationalsozialisten verharmlosen, fast vervierfacht.
Die Untersuchung belegt empirisch das, was wir in den Gedenkstätten seit einiger Zeit sehr stark merken. Es ist ein gesamtdeutsches Phänomen, das mir große Sorge macht. Das hat auch mit dem Aufstieg der AfD zu tun. Wenn solche rechtsextremen Positionen aus den Parlamenten heraus vertreten werden, von einer Partei, die in Wählerumfragen bei 20 Prozent steht, dann fühlen sich manche ermutigt, diese offensiv zu verbreiten. Gleichzeitig gibt es einen Normalisierungs-Effekt: Dass solche Positionen eben nicht mehr als Skandal wahrgenommen werden, sondern als eine Meinung unter vielen, die man respektieren könnte. Und das ist beim Erfolg der AfD meines Erachtens die größte Gefahr.

Manche sagen, gegen diese Entwicklungen helfe nur der direkte Dialog. Wäre es nicht sinnvoll, Jörg Prophet in die Gedenkstätte einzuladen, um mit ihm über seine Aussagen zu streiten?
Prophet als Oberbürgermeister einzuladen, mit ihm zusammenzuarbeiten, würde genau diese extrem rechten Diskurse normalisieren. Und wir wollen es den Überlebenden und ihren Angehörigen nicht zumuten, bei Gedenkveranstaltungen neben jemandem zu sitzen, der ihr Leid kleinredet. Gleichwohl kann Prophet als Privatperson gerne in die Gedenkstätte kommen, sich unsere Dauerausstellung ansehen und sich selbst ein Bild darüber machen, was diese Verbrechen wirklich bedeutet haben. Ich denke allerdings, dass er das eigentlich ganz genau weiß. Da es aber nicht in sein Weltbild passt und der AfD-Propaganda vom Stolz auf unsere Ahnen widerspricht, verdreht er die Geschichte ganz bewusst.

Prof. Dr. Jens-Christian Wagner befasste sich schon in seiner Doktorarbeit 1999 mit der Geschichte des KZ Mittelbau-Dora. Heute ist er Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.

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