Gipfel unter Windrädern Zwei Männer im Wald: Scholz, Wüst und die Frage nach der Kanzlerkandidatur

Olaf Scholz und Hendrik Wüst
Zwei Männer auf der Lichtung - doch zum Duell kommt es nicht zwischen Kanzler Olaf Scholz und NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst. Das könnte in zwei Jahren womöglich anders sein.
© Bernd Thissen / DPA
Wipfelgipfel hart an der Grenze: Der Kanzler und der NRW-Ministerpräsident treffen sich zur Besichtigung von Windrädern. War das womöglich ein historischer Spaziergang?

Hendrik Wüst kommt vier Minuten zu früh, Olaf Scholz sechs Minuten zu spät. Der Ministerpräsident und seine Leibwächter fahren immerhin in zwei schwarzen Limousinen auf den Parkplatz an der Jagdhausstraße, der Kanzler aber hat eine Kolonne aus vier Motorrädern, zwei Limousinen, zwei Kleinbussen, plus vorne und hinten ein Polizeifahrzeug. Insignien der Macht. Wüst grüßt die rund 50 Journalisten freundlich, Scholz nicht.

Was ist das hier? Ein Ministerpräsident empfängt den Bundeskanzler. Sowas kommt immer wieder mal vor. Aber am Rande der Gemeinde Simmerath, nahe der belgischen Grenze, treffen sich an diesem Tage zwei Männer, die mehr verbindet als ihre Ämter. Genauer gesagt: die mehr trennt. Sie begegnen sich im Wald, die Sakkos lassen sie in ihren Autos, und gleich gehen sie zusammen auf eine Lichtung – fast so, wie man sich das bei einem Duell vorstellt.

Die Abneigung ist tief und gegenseitig

Der Kanzler und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident sind beide noch nicht allzu lange in ihren Ämtern und haben in ihrer Beziehung doch schon eine Menge Vergangenheit angehäuft. Zwei Männer begrüßen sich jetzt lächelnd auf dem Schotterweg, die in den noch nicht einmal zwei Jahren ihrer jeweiligen Regierungszeit keinerlei Mühe darauf verschwendet haben, auch nur den Anschein zu erwecken, sie könnten sich leiden. Die große Frage aber ist, ob diesem Duo auch eine brisante Zukunft bevorsteht, nämlich dann, wenn Hendrik Wüst Kanzlerkandidat der Union werden sollte.

Begegnet hier der Amtsinhaber seinem Herausforderer? Womöglich sogar der Vorgänger seinem Nachfolger? Wüst und Scholz dürften ahnen, dass diese Frage kommen wird an diesem Tag. Nur wann?

Im Wald von Simmerath gibt es natürlich auch noch einen offiziellen Grund für die Begegnung. Die zwei Politiker gipfeln unter Wipfeln, um hier eines von sieben gigantischen Windrädern zu besichtigen, jedes fast 200 Meter hoch, Durchmesser der Rotorblätter 112 Meter. Im besten Fall liefern sie pro Jahr knapp 10 Millionen Kilowattstunden, das reicht umgerechnet für die Stromversorgung von 2800 Durchschnittshaushalten.

Ein CDU-Mann, der aussieht wie ein Grüner

Mit seiner Pferdeschwanzfrisur und seinem Enthusiasmus für die Windräder im Wald wirkt Bert Goffart, der Bürgermeister von Simmerath, wie ein Grüner aus dem Bilderbuch. Er ist aber in der CDU und wurde zuletzt mit 67 Prozent der Stimmen gewählt. Das liegt auch daran, dass er den rund 15.000 Simmerathern offenbar überzeugend die Vorteile der Windräder im Wald verklickert hat: Zwei Millionen Euro nimmt die Gemeinde jährlich über Flächenpacht und Gewerbesteuer ein – pro steuerpflichtigem Simmerather macht das Pi mal Daumen 120 Euro. Weil alle etwas davon haben, nennt sich die Anlage Bürgerwindpark. Simmerath soll nun Vorbild sein.

Hendrik Wüst geleitet Olaf Scholz zum Windrad. Der schlaksige Ministerpräsident geht fast federnd, der Kanzler latscht eher nebenher, die Hände in den Hosentaschen. Ein Zeichen von Desinteresse? Weit gefehlt. Am Windrad angekommen löchert Scholz den Chef der örtlichen Stadtwerke zu technischen Details. Drüber dreht sich das Windrad gemächlich, bei strahlendem Sonnenschein hat es knapp die Windgeschwindigkeit von drei Metern pro Sekunde erreicht, die es braucht, damit die Anlage anspringt.

Der Größenunterschied ist unübersehbar – zumindest körperlich

Was genau der Kanzler wissen will, können die Journalisten kaum verstehen. Es geht offenbar unter anderem um Genehmigungsverfahren und das Problem, dass die Windradanlagen inzwischen solche Ausmaße haben, dass sie auf Straßen und Brücken bald nicht mehr transportiert werden können. Wenn man als Reporter schon nichts hört, kann man immerhin was sehen – zumindest, dass in einem möglichen Fernsehduell zwischen Scholz und Wüst 2025 ein Podest zum Einsatz kommen dürfte, damit der Herausforderer den Amtsinhaber nicht zu sehr überragt. Das allerdings wäre bei Friedrich Merz oder Markus Söder auch so. Die Kandidatenfrage in der Union ist ein Triell der großen Männer, jetzt mal rein körperlich betrachtet.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Hendrik Wüst, damals selbst gerade erst sechs Wochen als Nachfolger von Armin Laschet im Amt, hat Olaf Scholz im Dezember 2021 zur Wahl zum Bundeskanzler gratuliert, nur um ihn fortan in schöner Regelmäßigkeit mit Forderungen und Kritik zu traktieren. Gerne versieht der CDU-Mann seine Wortmeldungen gen Berlin mit dem etwas blasierten Anspruch, der Kanzler müsse jetzt mal seines Amtes walten, oder so ähnlich.

Scholz angebliche Kritik – und sein Dementi

Der erste Clinch, in dem sich beide verhakten, drehte sich Anfang 2022 um die Impfpflicht. Wüst verlangte als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz eine Vorlage des Kanzlers, Scholz sah das genau umgekehrt und fuhr den Kollegen in der Sitzung entsprechend brüsk an. Im kleinen Kreis soll Scholz Wüst später als "Amateur im Ministerpräsidentenkostüm" bezeichnet haben. Das dementierte der Kanzler später mit den Worten, das Zitat sei in der Presse gewesen, "aber keine Bemerkung von mir".

Trotzdem hatte man danach immer mal wieder den Eindruck, dass Scholz den Ministerpräsidenten genau so behandelt. Zuletzt verlangte Wüst im Mai tagelang auf allen Kanälen eine Neuregelung der Flüchtlingskosten und mehr Geld vom Bund. In der folgenden Ministerpräsidentenkonferenz ließ Scholz den Kollegen abblitzen, hörte sich später genüsslich an, wie Wüst zähneknirschend die Leistungen aus Berlin würdigte, und freute sich schließlich vor der Presse, dass man "so nett beraten" habe. Es kam einer Demütigung gleich.

Im Forst von Simmerath gehen Kanzler und Ministerpräsident mittlerweile ein paar Schritte. Der Waldspaziergang hat große historische Vorbilder, am berühmtesten ist der Gang von Nato-Verhandler Paul H. Nitze und seinem sowjetischen Kollegen Julij Kwitzinskij 1982 am Genfer See. Beinahe wäre es den beiden gelungen, den Kalten Krieg vorzeitig zu beenden. Es dauerte dann aber doch noch ein paar Jahre länger, genauso wie die Rivalität von Helmut Kohl und Franz-Josef Strauß, die auch nach mehreren Wanderungen in den Wäldern Oberbayerns kein Ende fand.

Der Ministerpräsident wählt gerne den etwas zu hohen Ton

Die Ausgangslage für den Waldspaziergang von Simmerath ist auch nicht gut. Nur vier Tage vor Scholz‘ Besuch moserte der Ministerpräsident, der Kanzler breche mit seiner Weigerung, einen Industriestrompreis einzuführen, ein Wahlversprechen. Wüst warnte davor, den Industriestandort Deutschland zu Grabe zu tragen, und nannte es – einmal mehr in etwas zu hohem Ton - die "erste Amtspflicht des Kanzlers", der Abwanderung von Firmen entgegenzuwirken.

Doch siehe da: Zumindest an diesem Tag gehen die Herren betont freundlich miteinander um. Wüst sagt, seine Landesregierung wolle gerne ihren Beitrag leisten, um das Ziel des Kanzlers zu erreichen, bundesweit vier bis fünf Windräder pro Tag zu bauen. Mit schon 178 Genehmigungen in diesem Jahr liege Nordrhein-Westfalen für seinen Anteil im Plan. Ausgiebig legt Wüst seine Leistungsbilanz dar, gespickt mit Superlativen und Spitzenpositionen. Botschaft: Hier spricht ein Profi, kein Amateur. Und der Kanzler, offenbar in Geberlaune, würdigt die verstärkten Bemühungen der Düsseldorfer Landesregierung. Das sei "in den letzten Jahren nicht immer so" gewesen.

Scholz: Ich bin vieles, aber eines nicht…

Und dann kommt sie, die Frage, die den ganzen Vormittag wie eine Drohne über den zwei Politikern und ihrem Tross brummte: Ob Scholz hier seinem Herausforderer bei der nächsten Bundestagswahl begegnet sei? "Ich bin ja vieles", antwortet Scholz und lacht, "aber nicht der Pressesprecher der CDU." Für Wüst hätte es nicht besser laufen können. Ihm reicht es ja schon, als Kandidat im Gespräch zu bleiben. Den Rest erledigt Friedrich Merz, so oder so.

Zum Abschied tut Scholz dem Kollegen sogar noch einen Gefallen. Vor seiner Abfahrt zum nächsten Termin bittet der Kanzler den Ministerpräsidenten zur Seite und verwickelt ihn in eine minutenlange Flüsterei, die Presse wird auf Abstand gehalten, darf aber aus der Entfernung fotografieren. Es ist fast die ultimative Inszenierung von Politik: Zwei bedeutende Männer haben etwas zu besprechen. Soll keiner mehr sagen, sie könnten nicht miteinander – der Waldfriede von Simmerath.