Der Berliner Theologe, Philosoph und Kommunikations-Psychologe Olaf Georg Klein beobachtet die Verständigungsprobleme zwischen Ost und West seit 20 Jahren. In seinem Bestseller "Ihr könnt uns einfach nicht verstehen!" erklärte er viele Fallen und Irritationen und wird seitdem gern von West-Unternehmen engagiert, die mit Ost-Mitarbeitern besser klar kommen wollen - oder hier nur mehr verkaufen wollen. Nun bringt Klein mit Zeit als Lebenskunst den Besatzern auch noch die letzten Geheimnisse ostdeutscher Lebensart bei. Schon dafür musste ich ihn erstmal beschimpfen:
Sie Wessi-Versteher! Wieso müssen Sie denen alles verraten?!
Also ich würde mich eher als Moderator bezeichnen. Ich vermittele zwischen beiden Kommunikationskulturen.
Das ist doch auch schon ein typischer West-Begriff - Kommunikationskultur. Wir sind hier unter uns - Sie können Klartext reden.
Sie haben das Wort ja trotzdem verstanden. Es scheitert nicht an den Vokabeln.
Verstehe, sondern weil uns Westdeutsche nicht verstehen wollen…
Nein. Es liegt an verschiedenen Gesprächskulturen, hinter denen unterschiedliche Prägungen stecken. Engländer und Amerikaner zum Beispiel sprechen Englisch, haben aber jeweils andere Vorstellungen von Höflichkeit, Nähe oder Anerkennung und missverstehen sich daher oft.
Wir sollen uns also in Westdeutschland - nach nur 40 Jahren Trennung - behutsam wie im Ausland vorwärts tasten?
Ja. Ich würde die Frage sogar umdrehen: Wie konnten wir glauben, dass wir uns sofort verstehen würden? Deutschland war geteilt, in der BRD adaptierte man eher amerikanische Vorstellungen, etwa bei der Selbstdarstellung. In der DDR nahm man große Teile der - da sage ich es wieder - osteuropäischen Kommunikationskultur an. Das war kein bewusster Prozess, eher eine Abfärbung.
Vor allem war keiner auf den Clash dieser Kulturen vorbereitet. Wir wollten 1989 mit offenen Armen empfangen werden. Sie begrüßten uns mit Geld. Wessen Umarmung war eigentlich scheinheiliger?
Das ist mir zu wertend. Man merkte jedenfalls schnell, dass es unterschiedliche Kulturen gibt. Nehmen wir das Beispiel Freundschaft: In Amerika ist jeder dein Freund, schon nach zwei Minuten. Westdeutsche nennen Geschäftsfreunde und gute Bekannte so. Wenn ich aber im Osten jemanden als Freund bezeichne, habe ich mit ihm schon einiges durchgestanden. Das sind schlicht andere Gewichtungen - ganz wertfrei.
Anfangs hieß es immer, diese Probleme wären nach fünf Jahren verschwunden, dann hieß es zehn, inzwischen sind 20 Jahre um. Ich für meinen Teil habe mich damit abgefunden und sage lieber öfter mal Schnauze. Wie lange ist das noch nötig?
Es hängt eben von jedem Einzelnen ab, ob er das eher als Problem oder als Chance sieht. Aber dass es sich in den nächsten zwei, drei Generationen auflöst, glaube ich auch kaum.
Mir reichen zwei Minuten und ich weiß, wo jemand herkommt, vom Dialekt einmal abgesehen. Können Sie das auch?
Bei einem intensiven Gespräch schon. Bei Smalltalk vielleicht nicht immer. Aber interessant ist, dass es auch ohne Worte zu spüren ist. Bei meinen Seminaren treffen sich die Leute nach der Anreise zum ersten Kaffee und keiner weiß, wo der andere herkommt. Trotzdem stehen - nach ganz kurzer Zeit - immer die Westler und die Ostler unter sich.

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Weil man es riecht - jetzt auch mal ganz wertfrei gefragt?
In gewisser Weise ja. Es ist ein Automatismus. Das zeigt, wie viel über Blickkontakt, Sprechgeschwindigkeit, Nähe und Distanz läuft, über Sympathie und Schwingungen. Im Seminar glaubt dann erstmal keiner, dass es irgendwelche Ost-West-Kommunikationsprobleme gibt: "Ach wo, spielt doch keine Rolle mehr, das ist doch längst vorbei …" Wenn ich sie dann daran erinnere, mit wem sie zusammen gestanden haben, ist das gar keinem aufgefallen. Es passiert also spontan, unbemerkt.
In Ihrem Buch fällt auf, dass Sie trotz aller Unterschiede Wertungen über typisches Ost- und West-Verhalten vermeiden. Warum?
Unterschiedliche Kommunikationskulturen zeigen immer nur einen Ausschnitt an Realität und verdecken einen anderen. Von daher wäre es Unsinn zu sagen, das eine sei besser oder schlechter.
Leider sind es ja oft nur diffuse Gefühle, die Unbehagen auslösen. Man kann es gar nicht immer in Worte fassen, was einen an Westdeutschen so stört. Vermutlich ist es einfach die Tatsache, dass die sich darüber nicht mal Gedanken machen …
Das stimmt nicht. Sie sind genau so verunsichert, wenn sie viel mit Ostlern zu tun haben oder dort arbeiten. Aber es gehört wiederum zu ihrer Kommunikationskultur, sich das nicht anmerken zu lassen. Manchmal fällt es ihnen erst nach Jahren wie Schuppen von den Augen, warum sie damals Probleme hatten. Auch vielen Politikern sind die Wähler im Osten nach wie vor ein Rätsel.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Klein über die Kommunikationsprobleme von Mann und Frau zu sagen hat und was er von nützlichen Vorurteilen hält
Klingt fast wie der ewige Konflikt zwischen Mann und Frau ...
Sicher. Deborah Tannen hatte in den 70er Jahren mit "Du kannst mich einfach nicht verstehen" ähnliche Erkenntnisse, auch Mann und Frau haben Verständigungsschwierigkeiten. Und es gibt eine bestimmte Affinität der östlichen Kommunikationskultur zur weiblichen und der westlichen zur männlichen. Man kann das vergleichen, der Westen - oft direkter vorgehend, zielgerichtet, eher auf Durchsetzung orientiert - und der Osten - passiver, reaktiver …
...auch umständlicher?
Aus westlicher Perspektive mag das so scheinen. Aber innerhalb der östlichen Kultur ist es nicht umständlich, sich relativ lange bei Gemeinsamkeiten aufzuhalten und erst dann zu Trennendem zu kommen. Umgedreht scheint vielleicht etwas, das innerhalb des Westens ein klares und direktes Vorgehen ist, aus der östlichen Perspektive als verletzend.
Der weibische Ostdeutsche also - na schönen Dank!
Da steckt jetzt auch schon wieder Wertung drin. Verstehen hat immer mit Verständnis zu tun. Und Missverständnisse beginnen schon bei der Gesprächseröffnung. Im Westen heißt das ungeschriebene Gesetz: Fang jede Kommunikation positiv an, egal wie schlecht es dir geht. In der östlichen Kommunikationskultur ist es genau anders herum. Da lautet das Gesetz: Sei nicht überheblich. Man macht sich klein, eröffnet mit einem Problem. Dafür muss es einem nicht mal schlecht gehen. Das ist nur so ein Spiel. Wie geht's? Na ja, geht so, könnte besser sein…
Klar, kennt man ja: Der Westdeutsche gibt erstmal an, wie gut es ihm geht, der andere jammert aus Bescheidenheit…
So wirkt das - aber nur weil das Gespräch nicht synchron läuft. Der eine bringt einen positiven Impuls, der andere einen negativen, aber beide wollen darüber zum Eigentlichen kommen.
Ist das nicht auch unterschiedlich ehrlich?
Es ist beides gleich ehrlich und unehrlich - nur anders. Man muss es als kreative Herausforderung sehen. Nur weil der andere nicht genauso tickt wie ich, ist er ja nicht gleich „falsch“.
Aber verlässliche Vorurteile machen auch vieles einfacher: typisch Westen, daran kann man sich orientieren. Und Spaß macht es auch!
Natürlich trösten Feindbilder über eigene Frustrationen. Dann muss sich niemand mit dem eigentlichen Problem beschäftigen.
Hat das eigentliche Problem auch etwas mit Neid zu tun?
Ich glaube ja - aber als Komplex in beide Richtungen: Ein Ostler ist eher neidisch auf die Vorteile des Westens, die Erbschaften und Häuser. Gleichzeitig lehnt er das ab: Na ja, die Westler, immer nur aufs Materielle aus… Der Westler ist neidisch darauf, wie Ostdeutsche miteinander oder mit der Zeit umgehen. Danach sehnt er sich, lehnt es aber als "ineffizient" ab. Das ist also doppelt gewickelt auf beiden Seiten: Man beneidet, was man gleichzeitig verabscheut. Das ist der Knackpunkt. Zumal das auch noch damit einhergeht, dass Ostler laut Statistik mehr Sex haben, solche Sachen.
Ihre Lebensgefährtin stammt aus dem Westen, stimmt das?
Was soll das denn jetzt?
Ist Ihnen das etwa zu privat? Sind Sie dafür schon zu sehr Westler?
Kommt drauf an, ob das jetzt ein Vorwurf ist oder ein Kompliment.
Wie Sie wollen, ich dachte wir sprechen eine Sprache. Apropos - reden wir eigentlich gerade west- oder ostdeutsch miteinander?
Am reinen Text ist das nicht zu erkennen. Aber mit Leuten aus dem Westen rede ich schneller, bleibe mehr auf Abstand und schaue ihnen nicht so lange direkt in die Augen. Im Osten betone ich eher den Konsens, unterbreche nicht und sage auch nicht ungefragt alles von mir aus. Da wird eine indirektere Form der Kommunikation bevorzugt.
Muss man eigentlich unbedingt beide Sprachen können?
Der Ostdeutsche muss wohl. Der Westdeutsche kann, deshalb fällt es ihm auch schwerer. Wenn ich innerhalb meines alten Gefüges bleibe, juristisch, ökonomisch, politisch, dann habe ich natürlich wenig Veranlassung, mich mit einer anderen Kommunikationskultur zu befassen. Warum auch? Für den Ostler aber hat sich in der offiziellen Kommunikationskultur fast alles geändert. Er hat ein Interesse daran, das zu fassen und klare Grenzen zu ziehen. Zum Beispiel wird er im Job eher westlich kommunizieren, weil es da effizienter ist, aber privat seine alte Kommunikationskultur behalten, weil sie in Sachen Freundschaft und Liebe viel besser funktioniert.
Autor und Coach: Olaf Georg Klein, Jahrgang 1955
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