Bundeskanzler und mehr Vor einem Jahr noch totgesagt: die neue Machtfülle der SPD

Olaf Scholz neben der Willy-Brandt-Statue und dem SPD
Plötzlich wirkt die Willy-Brandt-Statue nicht mehr wie eine bloße Mahnung aus längst vergangenen Zeiten: Der nächste SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz in der Berliner Parteizentrale.
© Michael Kappeler / DPA
Es gab schon regelrechte Abgesänge auf die deutsche Sozialdemokratie. Doch Totgesagte leben bekanntlich länger. Das trifft auch auf die SPD zu. Und wie! Plötzlich hält die Partei eine enorme Machtfülle in der Hand. Kann sie die unverhoffte Chance nutzen?

Auf einmal steht sie wieder glänzend da, die deutsche Sozialdemokratie. Und das nicht nur, weil sie seit diesem Mittwoch mit Olaf Scholz den neuen Bundeskanzler und die stärkste Fraktion im Bundestag stellt. Scholz ist als Regierungschef und mächtigster Mann im Land formal die Nummer 3 im Staat. Die Nummer 1, der Bundespräsident – ein Sozialdemokrat (auch wenn Frank-Walter Steinmeier für die Amtszeit die Parteimitgliedschaft ruhen lassen muss). Die Nummer 2, die Parlamentspräsidentin – eine SPD-Frau, Bärbel Bas. Und dann sind da noch elf von 16 Landesregierungen, an denen die Partei beteiligt ist. In sieben Ländern stellt sie die Ministerpräsidentinnen oder Regierungschefs. Eine enorme Machtfülle für eine Partei, die vor nur rund einem Jahr noch totgesagt war.

"Das ist ein Hammer", gibt der Politikwissenschaftler und Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik", Albrecht von Lucke, im Gespräch mit dem stern zu. "Aber es ist auch eine zum Teil imaginierte Macht." 25 Prozent für einen Bundeskanzler seien alles andere als eine Allmacht, "das dürfen wir dabei nie vergessen". Das sei Olaf Scholz auch sehr bewusst. "Seine Devise ist daher immer arrondieren der Macht, Stabilisierung der Macht und Ausdehnung der Macht. Das ist dem Mann quasi in Fleisch und Blut übergegangen", so von Lucke.

SPD im August 2020: Wozu ein Kanzlerkandidat?

Was die neue Machtfülle der SPD angeht, hat Scholz mit diesem Dreikampf im August 2020 angefangen. Damals, mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl, nominierte ihn seine Partei zum Kanzlerkandidaten – in einer Lage, in der sich selbst etliche Genossen fragten: Wozu überhaupt noch einen Kandidaten aufstellen? Die Partei dümpelte in Umfragen seit langem um die 15 Prozent dahin und Scholz' damaliges Mantra "Ich will Kanzler werden" wirkte bisweilen realitätsfern. Als er sich später zu der Aussage verstieg, dass die Chancen, den Kanzler zu stellen, lange nicht mehr so groß gewesen seien wie bei dieser Wahl, erntete er vor allem Kopfschütteln. Dabei war seine Begründung durchaus schlüssig: Ohne Angela Merkel spiele der Amtsbonus keine Rolle, und daher könnten Prozentzahlen von 20 plus schon reichen, um ins Kanzleramt einzuziehen.

Mit dieser Einschätzung lag der neue Kanzler richtig, wie sich gezeigt hat. Ein strahlender Aufstieg aus eigener Kraft war es trotzdem nicht. "Das ist alles dem Versagen der CDU und auch der Grünen geschuldet", stellt Albrecht von Lucke fest. "So viel Gegnerunterstützung für die SPD wie in diesem Jahr gab es nie", konstatiert auch Wolfgang Schroeder, Professor an der Universität Kassel und dem Wissenschaftszentrum in Berlin. Die Union sei am Ende der Merkel-Jahre nicht nur völlig erschöpft, "sondern sie hat sich vor laufenden Kameras zerfleischt", so Schroeder zum stern. CSU-Chef Markus Söder habe daran mit seinen öffentlichen Attacken gegen den Kanzlerkandidaten Armin Laschet einen noch größeren Anteil gehabt als CDU-Mann Laschet selbst. Da nicht zuletzt auch die zunächst favorisierten Grünen im Wahlkampf große Schwächen zeigten, sei eine günstige Gelegenheit entstanden, die die SPD genutzt habe.

SPD wusste "Geschenk des Himmels" zu nutzen

Allerdings: Die Gelegenheit ist das eine, in der Lage zu sein, ein solches "Geschenk des Himmels" (Schroeder) zu nutzen, das andere. Wahlerfolge in den Ländern (Rheinland-Pfalz, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern) stärkten der SPD dabei den Rücken. Olaf Scholz, der neue Kanzler, ist jedoch die entscheidende Figur – als der richtige Kandidat zur rechten Zeit, aber auch mit Blick auf die nun folgenden Regierungsjahre und dem schon jetzt formulierten Willen zum Machterhalt in der Zeit danach. "Scholz hat in der Koalition den Hut auf. Er ist der Routinier", sagt Albrecht von Lucke, "das macht ihn stark". Grüne und FDP, die naturgemäß viele Neulinge im Ministeramt stellen, werden dies im Koalitionsalltag deutlich zu spüren bekommen, prophezeit von Lucke. Und weiter: "Der Erfolg ist volatil und kann ausgesprochen schnell schwinden. Deswegen wird Scholz versuchen, die Lage in der Koalition immer zu kontrollieren, um so die Nase im Politikerranking immer vorn zu haben."

Olaf Scholz
Skandale, Erfolge und Privates – Was Sie über Olaf Scholz wissen müssen
Skandale, Erfolge und Privates: Was Sie über Olaf Scholz wissen müssen

In dem knappen Wahlsieg sieht Wolfgang Schroeder aber auch eine Chance für die Partei. "So weiß man, man hat die Macht nicht in Händen, sondern ist Koordinator der Macht", glaubt Schroeder, der Mitglieder der SPD-Grundwertekommission ist. Die Sozialdemokraten hätten nun die Chance, die im Willen einer Regierungsbildung ohne die Union entstandene Einheit zu bewahren und fortzuentwickeln und nicht wie in der Vergangenheit oft üblich, "zu streiten wie die Kesselflicker". Scholz sei auch dabei die wichtigste Figur. "Wenn die SPD Erfolg haben will, dann muss sie als Team funktionieren, und als Team zu funktionieren heißt, man muss sich mit dem Teamleader im Arrangement der Loyalität befinden", so Schroeder. Gleichzeitig müsse es aber auch einen Ausgleich mit der Partei und anderen Interessen geben. "Dafür steht Karl Lauterbach, denn Lauterbach ist noch nicht Team Scholz", nennt der Politikwissenschaftler das Beispiel des neuen Gesundheitsministers an. Der verdankt sein Amt wohl vor allem dem starken Zuspruch aus der Öffentlichkeit.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Chance für Sozialdemokratie in einer modernen Gesellschaft

Die SPD könne nun durchaus, durch den gesamten Prozess des Wahlkampfs und der Regierungsbildung zu einer "realistischeren, pragmatischeren Partei werden", die dennoch ihren Werten und ihrem Willen zur Gesellschaftsreform folge. Sie habe die große Chance, jetzt zu erkennen, dass sie in ein neues Zeitalter für sich selbst eintreten könne, "in eine neue Epoche dessen, was Sozialdemokratie in einer modernen, heterogenen Gesellschaft ist." Dazu müsse die Partei aber ihren Sieg kritisch analysieren, um die entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen.

Ob die SPD mit den richtigen Schlüssen länger die bestimmende politische Kraft bleiben kann als nur bis zur nächsten Wahl, hängt davon ab, wie schnell es die Union schafft, sich zu erholen. Und natürlich vom Erfolg der Scholz-Regierung. "Die große Frage ist die Krisenbewältigung, und da reden wir derzeit alle etwas ins Blaue hinein", sagt Albrecht von Lucke. Niemand könne wissen, ob Olaf Scholz die Coronakrise in den Griff bekommen könne, bei der Klimakrise sei es noch unsicherer. "Es steht und fällt alles mit der Frage, wie krisentauglich der Mann ist. Das ist bislang noch alles ungedeckt."