Bundeskongress Die Jusos wollen endlich und im großen Stil ihre SPD zurück

Jusos demonstrieren beim Bundeskongress gegen Aussagen von Bundeskanzler Scholz
Jusos demonstrieren beim Bundeskongress gegen Aussagen von Bundeskanzler Scholz
© Moritz Frankenberg / DPA
Harte Attacken gegen den Kanzler, scharfe Kritik an der Partei: Die Jusos haben reichlich Wut im Bauch, sehnen sich nach mehr SPD im Ampel-Bündnis. Das bekommen die Funktionäre zu spüren – und auch zu sehen. 

Kevin Kühnert kennt diesen Moment. Wenn sich so viel Ärger angestaut hat, dass er einfach raus muss. Gegen die Regierung, die eigene Partei. Doch dass es einmal ihn treffen würde, obendrein in dieser Schärfe – das lässt auch einen Politprofi wie Kühnert nicht kalt. 

Seine Schonfrist sei vorbei. Er solle daran denken, wo er herkomme, wer ihn ins Amt getragen habe. Es brauche einen mutigen SPD-Generalsekretär. 

Kühnert wirkt angefasst, nachdem ihm die Jusos am späten Samstagabend auf ihrem Bundeskongress in Braunschweig regelrecht eingenordet haben. Vier Jahre lang war er ihr Vorsitzender. Mittlerweile ist er Funktionär jener Partei, die aus Sicht der Jusos ihre Ideale und Werte zunehmend den Flammen überlasse. 

"Ihr habt auch an einigen Stellen recht", reagiert Kühnert auf die Kritik. Die SPD sei "zu zufrieden" geworden. Er mahnt aber auch: "Es wird nicht reichen, Christian Lindner auf jeder Bühne zu beschimpfen" und zu beklagen, dass die SPD noch nicht die "reine Lehre" umgesetzt habe. "Wir werden kreativer sein müssen." Dünner Applaus. Der Frust sitzt tief.  

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert auf dem Juso-Bundeskongress in Braunschweig
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert auf dem Juso-Bundeskongress in Braunschweig
© Moritz Frankenberg / DPA

Das Verhältnis zur Mutterpartei ist angespannt, mitunter gestört. Zwar gehört es zur Jobbeschreibung von Jugendverbänden, aufmüpfig zu sein, die Bundespartei hart anzufassen. Doch die Kritik in Braunschweig ist brutal. Falsche Inhalte, falsche Strategie, falscher Kurs. Es könnte ein erster Vorgeschmack auf den SPD-Bundesparteitag Anfang Dezember sein, bei dem auch zahlreiche Jusos unter den Delegierten sein werden. Sie werden über Anträge abstimmen, die Parteiführung neuwählen, sie möglicherweise abstrafen. 

Jedenfalls muss sich die SPD auf eine harte Auseinandersetzung mit ihrem Nachwuchs einstellen. Am Freitag wurde Philipp Türmer, 27, zum neuen Juso-Chef gewählt. Schon in seiner Bewerbungsrede arbeitet er sich wortreich an Olaf Scholz ab, der in "seiner Burg, dem Bundeskanzleramt" offenbar vergessen habe, ein Sozialdemokrat zu sein. Auch auf dem Bundesparteitag dürfte Türmer deutlich werden. Um sich zu profilieren, aber auch um den Kanzler direkt zu adressieren: Scholz sagte seine Teilnahme zum nunmehr zweiten Mal am Juso-Bundeskongress ab.

Die SPD, "nur ein ganz kleiner Stachel im Fleisch des Bundeskanzleramts"

Saskia Esken bekommt die Unzufriedenheit zuerst zu spüren. Die Co-Parteichefin hält am Samstagmorgen ein Grußwort. Schön wird’s nicht, das lässt schon das knappe Klatschen auf ihrem Weg zur Bühne erahnen. Großartig sei das, sagt Esken zur Begrüßung, die Jusos schon so früh so aufgeweckt zu erleben. Eine grobe Fehleinschätzung. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Die Stimmung ist gedrückt, Samstagmorgen hin oder her. Es brodelt beim Parteinachwuchs. Insbesondere die Ansage von Kanzler Scholz, "endlich" und "im großen Stil" abschieben zu wollen, hat den Jugendverband nachhaltig verstört. Eine Forderung "direkt aus dem Vokabular des rechten Mobs", meinen die Jusos, ihr neuer Vorsitzender "könnte kotzen".

Esken nimmt die hier mindestens undankbare bis unmögliche Aufgabe auf sich, die Asylpolitik des Kanzlers zu rechtfertigen. Auch sie habe die Wortwahl erschreckt, versucht Esken eine leise Kritik an Scholz. Aber wenn man das ganze Interview lese, so könne man den "ganzheitlichen Ansatz der Migrationspolitik der Ampel schon erkennen". 

Stille im Saal.

Sie schmerze es auch, aber klare und verlässliche Regeln müsse es schon geben.

Stille im Saal. Husten, Stühlerücken.

Und mit dem Chancenaufenthalts- und Fachkräfteeinwanderungsgesetz habe man große Fortschritte erzielen können, sagt Esken, die mit der Union nicht zu machen gewesen wären. 

Stille im Saal. Einige werfen sich ihre Jacken über, verlassen den Raum. 

Eskens Versuch, die Asylpolitik zu erklären oder auch nur im Ansatz in ein besseres Licht zu rücken, scheitert. Ein anwesender Juso schickt eine SMS mit dem Hinweis, sich lieber noch einen Kaffee holen zu gehen – es gebe über ein Dutzend Wortmeldungen zu Eskens Rede. Alle fallen verheerend aus für die SPD-Chefin. 

Die Rede ist von einer "Abschiebeindustrie", die eine "Abrissbirne" sozialdemokratischer Werte sei. Einer droht: "Wir sind bereit, weiter mit euch zu kämpfen, aber nur, wenn ihr euch an eure Versprechen haltet." 

Der Nachwuchs muckt auf: Das kennt die SPD schon von der "No GroKo"-Kampagne nach der Bundestagswahl 2017, mit der Kevin Kühnert die Parteiführung vor sich hertrieb. Auch der neue Juso-Chef Türmer lässt keinen Zweifel daran, keine Konfrontation mit der Spitze zu schrecken. 

Als Esken 2019 von den Jusos unterstützt zur Parteichefin gewählt wurde, da habe er so etwas wie Aufbruch gespürt, sagt Türmer. Und jetzt? "Liebe Saskia, ich sehe diesen Aufbruch nicht." Deutschland habe zwar einen sozialdemokratischen Kanzler – doch das scheine Scholz selbst zu vergessen. Im Moment habe er das Gefühl, dass die SPD "nur ein ganz kleiner Stachel im Fleisch des Bundeskanzleramts" sei. "Das muss mehr werden." 

Türmer will die "gottlose" Schuldenbremse kippen, fordert, dass der Kanzler den Kampf gegen Armut zur "Chefsache" mache. Zu Scholz‘ "Respekt-Wahlkampf" schleudert er in Richtung Kanzleramt: "Was ist daraus geworden? Ich bin entsetzt." 

Scholz ist zwar selbst nicht da und doch omnipräsent. Als Esken verabschiedet wird, halten Delegierte das "Spiegel"-Titelblatt mit seiner umstrittenen Abschiebe-Absage anklagend in die Luft. Darauf das Zitat des Kanzlers: "Wir müssen endlich im großen Stil abschieben." Das Wort "abschieben" haben sie durchgestrichen und durch Forderungen wie "den Klimawandel bekämpfen" und "neue Wohnungen bauen" ersetzt. 

SPD-Co-Chefin Saskia Esken beim Juso-Bundeskongress in Braunschweig
SPD-Co-Chefin Saskia Esken beim Juso-Bundeskongress in Braunschweig
© Moritz Frankenberg / DPA

Wütend und sich ihrer Macht bewusst: die Jusos

Es ist offensichtlich, dass die Jusos wieder sichtbarer und lauter werden wollen, nach den schwierigen (und zwangsläufig stilleren) Corona-Jahren. Die nun ausgeschiedene Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal begann ihre Amtszeit 2020 so, wie sie nun geendet ist: per Video. Sie wird bald Mutter, will sich auf die Familie konzentrieren, und schickte eine Videobotschaft nach Braunschweig.

Außerdem hatte der überraschende SPD-Sieg bei den Bundestagswahlen 2021 auch die Jusos diszipliniert, vielleicht auch überrumpelt. Etwas erfahrenere Genossen im Bundestag ätzen bis heute, der Nachwuchs müsse sein Handwerk noch lernen. Sie sagen aber auch: Machtbewusst sind sie, die Jusos. Mittlerweile stellen sie 50 Abgeordnete in der SPD-Fraktion. Ein Machtblock, ohne den Kanzler und Koalition keine Mehrheit hätten. Doch im Gegensatz zu Vorgängerin Rosenthal sitzt der neue Juso-Chef nicht im Bundestag. Das dürfte Türmer mehr Beinfreiheit verschaffen, den Kurs der Regierung zu kritisieren. "Keine Koalition ist ein Selbstzweck, auch diese nicht", sagte er in einem ersten Interview als Juso-Chef, stellte damit das Ampel-Bündnis offen infrage. Auf die Kanzlerpartei dürften unruhige Zeiten zukommen.

Das ahnt wohl auch die Parteiführung, die bei den Jusos für ein gutes Miteinander wirbt. Hubertus Heil, Bundesarbeitsminister und Mitglied des SPD-Vorstands, bringt es in seinem Grußwort am Samstagmittag auf diese Formel: "Arbeitet euch an der Parteiführung ab, das ist die Aufgabe der Jusos." Doch bei allen Klärungsprozessen und harten Auseinandersetzung müsse man darauf achten, dass es nicht zu Verletzten komme.