Es war 23 Uhr Londoner Zeit, und Matthias Platzeck stürmte in die "Leader's Bar" im Marriott Hotel; er tritt nicht einfach in einen Raum, er prescht hinein. Er gab jedem in der kleinen Runde die Hand. Man zuckt dabei etwas zusammen. Platzeck hat einen Händedruck, als würde er morgens nach dem Aufstehen ein paar rohe Kartoffeln zerquetschen, trocken und fest, sehr fest. Er ignorierte den Humidor mit den Cohibas, ließ sich in einen dieser sehr britischen, braunen Ledersessel fallen, stemmte die Füße auf den bunt karierten Teppichboden und bestellte ein Guinness. Matthias Platzeck wirkte zufrieden.
Er hatte an diesem Abend auf der anderen Seite der Themse Tony Blair getroffen, zum Kennenlernen. Blair hatte ihn in seine Privatwohnung gebeten und sogar einen Whisky kredenzt. Eine Stunde lang hatten sich Platzeck und der britische Premier unterhalten, über Mindestlohn und Kinderbetreuung, Gotteskrieger und die Welt. Zwischendurch wollte Blair sogar wissen, von Parteiführer zu Parteiführer, "wie man das mit einer Großen Koalition so macht". Jedenfalls hatte Platzeck den Eindruck, dass es "keine Annäherungsprobleme" gab, trotz der Dolmetscherin, die hin und her übersetzen musste.
Er nahm einen Schluck Bier und sah erwartungsfroh in die Runde. Seine Augen blitzten, er guckt oft ein bisschen verschmitzt; Platzeck ist ein meist fröhlicher, fast immer freundlicher Mensch. Ein ausgesprochen angenehmer Zeitgenosse. Das ist für viele ungewohnt. Man kennt das so nicht von SPD-Vorsitzenden. Es war ein netter Abend. Dann kam die erste Frage. Herr Platzeck, sind Sie aus Deutschland hierher geflohen?
Uups, da war es wieder,
das größte Problem des Matthias Platzeck, 52, aus Potsdam. Er guckte weiter freundlich. Er wirkte auch nicht so, als würde er hinter der freundlichen Fassade verbergen, wie sehr er es satt hat, schon wieder und diesmal weit von Berlin entfernt darüber reden zu müssen, wieso es mit dem Vizekanzler Müntefering nicht richtig rund läuft, warum die SPD in Umfragen nach unten durchgereicht wird, und was er, der SPD-Chef, dagegen zu tun gedenke.
"Nee", antwortete Platzeck also leicht berlinernd, "ich bin keen Nestflüchter. Ich bin gern zu Hause."
100 Tage ist Platzeck an diesem Donnerstag im Amt. Gemessen an Willy Brandt, ist das ein Klacks. Gemessen an seinem Vorgänger Franz Müntefering, der 605 Tage SPD-Chef war, ist es schon eine ordentliche Strecke. Er ist furios gestartet wie keiner vor ihm, mit einer brillanten Rede auf dem Karlsruher Parteitag und mit 99,4 Prozent der Stimmen. Danach platzierte er flugs einige Getreue an den Schaltstellen der SPD-Zentrale und ließ es im Übrigen eher ruhig angehen.

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Auffällig wurde Platzeck wieder ab Mitte Januar. Erst kassierte er den Beschluss zur Kinderbetreuung, den das Kabinett auf einer Klausur eine Woche zuvor, in seinem Beisein, gefasst hatte. Dann grätschte er Müntefering in den Alleingang zur schrittweisen Erhöhung des Renteneinstiegsalters. Er zwang ihn, das unpopuläre Thema ganz schnell durchs Kabinett zu bringen, um die Wahlkämpfe in drei Bundesländern nicht zu belasten.
Das war Platzecks erste
Machtdemonstration und doch nur ein halbstarker Auftritt. Ein SPD-Chef Lafontaine hätte Müntefering vermutlich gepresst, den Rentenplan zurückzunehmen und erst irgendwann nach den Wahlen wieder hervorzuholen. Aber so tickt Platzeck nicht. Erstens hält er die Entscheidung grundsätzlich für richtig. Zweitens achtet er darauf, Widersacher nicht zu demütigen. Und drittens kann er den Vizekanzler nicht zum Feind gebrauchen. Münteferings bester Parteifreund wird er trotzdem nicht mehr.
"Das ist alles noch der Einschwingvorgang", sagt Platzeck, der Kybernetiker.
Vorige Woche wollte er dafür sorgen, dass es sich besser einpendelt. Er wollte sich in Ulla Schmidts Ideen zur Gesundheitsreform einweihen lassen, hatte endlich einen Termin frei für den Juso-Vorsitzenden, und mit Müntefering wollte er nach dem SPD-Präsidium Eintracht vorführen. Aber dann lag er flach; 40 Grad Fieber, eine Grippe hatte ihn gepackt. Als die SPD den 80. Geburtstag von Hans-Jochen Vogel nachfeierte, war der Parteichef nicht da, fehlte irgendwie aber auch nicht sonderlich. Platzeck, berichtete der Jubilar, habe ihn angerufen und dabei den Eindruck gemacht, "dass es gute Anlässe gibt, ihm gute Besserung zu wünschen".
Das klang doppeldeutiger, als Vogel es gemeint hatte.
Bei einer Preisverleihung am selben Tag ließ sich Platzeck als Schirmherr von seinem brandenburgischen Finanzminister Rainer Speer vertreten. Der beömmelte sich auf offener Bühne darüber, dass Platzeck als SPD-Chef derzeit selbst "ganz gut einen Schirm brauchen" könne.
Stimmt ja auch: Auf ihn prasselt einiges ein. Die Medien qualifizieren ihn als "Genosse Gutmensch" ("Financial Times Deutschland") oder als "Jürgen Klinsmann der SPD" ("Süddeutsche Zeitung") - sympathisch und mit hochfliegenden Zielen, ehrgeizig, machtwillig, aber stets die Frage aufwerfend: Bringt er's wirklich? Und die traditionsbewusste SPD, geübt darin, ihre Hoffnungsträger kleinzukriegen, hat sich jetzt eben Matthias Platzeck vorgenommen. Sie ist Luxus gewöhnt. Wen immer sie in der Vergangenheit metzelte, es gab mindestens einen, der einspringen konnte und auch wollte, zuletzt, nach Münteferings Selbststurz, eben Platzeck. Jetzt allerdings ist da weit und breit keiner mehr, nur noch Kurt Beck. Aber das hat in der SPD anscheinend noch niemand gemerkt.
Offen meutert keiner. Aber das Gemecker wird lauter. Was macht der den ganzen Tag? Was denkt der eigentlich? Wo will der hin? Kann der überhaupt dicke Bretter? Und warum führt der nicht? Die Linken fürchten, der Vorsitzende wolle Schröders Werk vollenden und eine Art "New Labour" aus der SPD machen. Die notorischen Übelkrähen in der Fraktion mokieren sich über Platzecks "Geschwurbel" und ätzen: "Er schrumpft unter der Herausforderung." Und als Franz Müntefering kürzlich im SPD-Präsidium etwas von "Kreisklasse" grummelte, da glaubten viele, damit sei auch Platzeck gemeint.
War er zwar nicht, hätte aber - schon die Möglichkeit kratzte an Platzecks Autorität.
So ist sie, die SPD:
Kaum spürt sie die verhasste Knute nicht mehr, sehnt sie sich danach. Er sei aber kein Ich-will-haben-dass-Typ, sagt Platzeck lapidar: "Ich bin keiner, werde keiner, will keiner werden." Es solle sich jedoch niemand vertun, warnt einer seiner engen Mitstreiter und prophezeit: "Einige derjenigen, die jetzt nach Führung rufen, werden sie noch erleben." Soll heißen: Unter der weichen Schale steckt ein ziemlich harter Kerl.
Erstaunlich, dass der von den Genossen Gezupfte beim breiten Publikum immer noch Gunst genießt, Tendenz wegen des SPD-internen Gezerres allerdings fallend. Im ZDF-Politbarometer liegt er an dritter Stelle; bei den SPD-Anhängern ist nur einer beliebter: CSU-Mann Horst Seehofer. Aber das ist eine andere Geschichte.
Manchmal kommt er sich vor wie in einem skurrilen falschen Film. Gibt der Botschafter in London ein Essen mit Diskussion, lautet die erste Frage an ihn, ob er auch mal hinschmeißen werde wie Schröder und Müntefering. "Ich bin ein bisschen preußisch gestrickt", antwortet Platzeck dann unerschütterlich. "Ich neige nicht zum Hinschmeißen."
Oder ein Journalist fragt, ob ihm, der 15 Jahre als Minister, Oberbürgermeister und Ministerpräsident auf dem Buckel hat, "schwummrig" werde angesichts der Verantwortung als SPD-Chef. "Im Goldenen Saal, da ging's mir noch so", sagt er dann. Das war zu DDR-Endzeiten, als Platzeck, gerade ein paar Wochen Minister im Kabinett Modrow, im Kreml seiner "Ikone" Gorbatschow gegenüberstand.
Vielen seiner Kritiker genügte es ja schon, wenn er ein bisschen mehr Rambazamba veranstalten, ein wenig stärker gegen Merkel und die Union keilen würde. Platzeck erzählt dann gern eine alte Geschichte aus der Zeit, als er junger, grüner Umweltminister war in Brandenburg. Damals, Anfang der wilden Neunziger, hockte er mal mit einigen Ressortkollegen aus den Ländern bei Bundesminister Klaus Töpfer zu Hause, sie kloppten Skat, den Kühlschrank mit den Biervorräten im Rücken, und die erfahrenen Umweltpolitiker aus dem Westen rieten dem Greenhorn aus dem Osten: Platzeck, wenn du was erreichen willst, musst du auf die Pauke hauen! Produzier Meldungen, sieh zu, dass du in die Nachrichten kommst, sonst gehst du unter. Platzeck hörte sich das alles an - und machte sein Ding weiter. "Ich wage zu sagen, dass ich nicht der erfolgloseste Umweltminister war", resümiert er heute.
Offenbar hat der Mann, der so energisch ausschreiten kann, die Ruhe weg. "Ich lass mich nicht irre machen, ich hab starke märkische Nerven." Die Landtagswahlen am 26. März, der erste Test darauf, ob die Große Koalition der SPD bekommt - sind sie auch der erste Test für deren neuen Vorsitzenden? Ach, sagt der, "ich bin gewappnet". Pause. Grinsen. Augenblitzen. "Vielleicht wird's wunderschön." Wenn Kurt Beck Rheinland-Pfalz verteidigt und die SPD in Sachsen-Anhalt mitregieren kann, dann, kalkuliert Platzeck, werden die aufgescheuchten Hühner in Berlin wieder brav auf der Stange sitzen. Eine kleine Weile jedenfalls.
Mag sein, dass er sich die Welt rosa gaukelt. Wahrscheinlicher ist: Er wendet einfach eine Methode an, die schon einmal zum Erfolg geführt hat. Man könnte sie die Methode Merkel nennen - sich ein Ziel setzen, stoisch darauf hinmarschieren, stur in der Spur bleiben und sich vom Gezeter und Gemache am Wegesrand nicht irritieren lassen. "Ich bin Bergwanderer", sagt er, "da muss man sich jeden Schritt genau überlegen."
Auch wenn er nicht gern mit "Merkeline" verglichen wird ("Soo ähnlich sind wa ooch nich") - die Parallelen sind frappant. Dasselbe Alter, beide Naturwissenschaftler, beide bürgerlich-protestantisch erzogen, beide nach einer Nischenexistenz in der DDR erst zu Wendezeiten in die Politik geraten und schnell nach oben gespült worden, beide eher in langen Linien und vom Ende her denkend. Natürlich wandert auch Angela Merkel gern alpin.
Bei einigem guten Rotwein steckten die Kanzlerin und ihr Partnerkontrahent Mitte Januar mehrere Stunden im Potsdamer Restaurant "Am Pfingstberg" die Köpfe zusammen, bis Ultimo zog sich das geheime Treffen. Klima herstellen, nennt Platzeck das. Seither sind sie einander sicher. Sie wollen, dass die Koalition hält. Bis 2009. Nicht länger, aber auch nicht kürzer. "Wenn das vor den Baum geht, haben wir gar nichts davon", sagt er.
Ein ähnlich entspannter Abendschnack mit Franz Müntefering, mit dem Platzeck vor allem Persönlichen das Parteibuch verbindet, ist zwar ins Auge gefasst, aber noch nicht zustande gekommen. Terminprobleme, heißt es.
Platzeck, in seiner Jugend ein glühender Anhänger des Sozialismus, hat sich eine Art Vierjahresplan zurechtgelegt. Seine Zielmarke ist Herbst 2009, wenn - Stand heute - ein neuer Bundestag gewählt wird. Dann soll die SPD wieder ein schlagkräftiger und rauflustiger Haufen sein, mit sich im Reinen und überzeugt von der Politik, die sie macht. Das Ende des "Agenda 2010"-Elends, der erzwungenen, mit schlechtem Gewissen akzeptierten Reformen. Einen "nachholenden Klärungsprozess" will Platzeck in den nächsten eineinhalb Jahren mit Hilfe einer breit angelegten Debatte über das neue Grundsatzprogramm in der Partei führen: "Wir müssen wissen, was wir wollen und warum wir es wollen." Das ist schön gesagt und schwer getan - zumal Platzeck keinen Rückfall hinter die Agenda dulden möchte. Aber womöglich täuscht man sich ja doch in der SPD und ihrem Vorsitzenden. Anfang Februar redete Platzeck in der Stuttgarter Liederhalle. Er gab den Volkstribun, charmierte die Gewerkschaften, wetterte gegen "ein Europa, wo der Kapitalismus sein Schaffell ablegen kann", und warb für "Löhne, von denen Menschen leben, ihre Familie ernähren, Kinder kriegen, schlicht und einfach existieren können. Es ist schlimm, aber wir müssen so was wieder sagen in unserem Land". Die Leute tobten. Danach sprach übrigens Erhard Eppler, der die SPD seit 50 Jahren von innen kennt. In dieser Volkspartei, sagte er, brauche man "Geduld, einen langen Atem und auch den Humor, den ich bekanntlich nicht habe".
Es klang schwer nach einem Rat. Es sieht allerdings nicht so aus, als hätte Matthias Platzeck ihn nötig.
Mainz-Gonsenheim. Nach der Klausur des SPD-Vorstands besuchen Kurt Beck und Platzeck ein Gymnasium mit einem Zweig für Hochbegabte. Platzeck wuschelt über Schülerköpfe, palavert mit den Pennälern über ihre Arbeit am Computer und darf im Labor mittun. Als ein Verpuffungsexperiment ansteht, blödelt er in Richtung Beck: "Im Kaputtmachen waren wir schon immer groß." Und zum Abschied flachst er die Schüler an: "Was lernt man hier? Dass manche Dinge ganz schön aufgeblasen sind."
Dabei guckt er, als würde er nicht unbedingt an Chemie denken.