Der Mann ist unten durch. Es darf freiweg gelästert werden über Wolfgang Tiefensee. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) lässt über den Parteifreund schon mal den Satz fallen: "Wo kein Tiefgang ist, kann keine Tiefe erwartet werden." Andere Genossen betiteln den Bundesverkehrsminister abschätzig als "Flachwasser." Ein SPD-Bahnexperte: "Tiefensee ist 2005 naiv in den Berliner Polit-Dschungel gestolpert und der hat ihn jetzt verschlungen."
Eigentlich wäre ein Rücktritt fällig
Eigentlich wäre ein Rücktritt fällig. Überfällig. Denn der Hamburger SPD-Parteitag hat dem SPD-Verkehrsminister sein Prestige-Projekt zertrümmert: die Bahn-Privatisierung. Nur ein Kraftakt von Parteichef Kurt Beck verhinderte die totale Demontage Tiefensees. Am liebsten hätten die Delegierten die Bahnreform sofort gekillt. Beck ließ nur einen Tod auf Raten zu. Desaströs ist das Ergebnis des SPD-Parteitags für den verantwortlichen Minister dennoch: Bei einer Privatisierung der Bahn dürfen nur nicht stimmberechtigte Vorzugsaktien ausgegeben werden. Solche "Volksaktien" lassen eine Einigung mit der CDU/CSU nicht zu. Denn Aktien ohne Stimmrecht, sagt die Union, machen die Bahn für finanzstarke Investoren uninteressant.
Pleite bei der Bahnprivatisierung
Was auf diesen Beschluss folgte war ein Lehrstück in Sachen Tiefensee. Der Mann, der in Hamburg "wichtige Weichen" hatte stellen wollen und sich dabei ins Abseits manövriert hatte, nahm die harte politische Realität einfach nicht zur Kenntnis. "Wir haben uns durchgesetzt," trotzte er. Der Börsengang komme 2009. Wo nur lebt dieser SPD-Politiker? In einer Welt selbst produzierter Illusionen? Spektakulär wird ihm sein Prestige-Projekt, mit dem er endlich Profil gewinnen wollte, aus der Hand geschlagen. Und er dichtet das in einen Sieg um. Im Kabinett Merkel gilt er, darin sind sich Schwarze wie Rote einig, als mit Abstand größter Versager. Gegen Tiefensee ist Wirtschaftsminister Glos ein Überflieger. Vor der Ablösung schützt ihn nur, dass die SPD damit zugeben müsste, Tiefensee habe sich als krasse Fehlbesetzung entpuppt.
Tiefensee galt als Wunderkind des Ostens
Die CDU fordert, ihm die Kompetenz für die Bahnreform zu entziehen. Finanzminister Peer Steinbrück solle dann retten, wenn noch etwa zu retten sei. Widerspruch aus der SPD dagegen war nicht zu hören. Der Mann ist den Genossen längst überpeinlich. Dabei galt der 52-Jährige in der SPD lange als politischer Überflieger. Ein Wunderkind des Ostens, in dem politische Profis fürs Spiel in der Berliner Bundesliga dünn gesät sind. Schon Gerhard Schröder hatte Tiefensee 2002 ins Bundeskabinett locken wollen. Schon damals sollte er Verkehrsminister und zuständig für den Aufbau-Ost werden. Doch er blieb lieber als Oberbürgermeister im Leipziger Rathaus. Dort gab er den Traummann aller Schwiegermütter. Immer verbindlich, immer korrekt. Dort lächelte er sich durch. Mit Charme und Cello. Unvergessen der Tag vor vier Jahren, an dem er bundesweit bekannt wurde. Olympia-Bewerbung Leipzigs. Tiefensee setzte sich auf die Bühne, und der Sohn eines Konzertmeisters spielte auf dem Cello meisterlich Bachs "Donna nobis pacem". Im Hintergrund lief ein Video vom Aufstand der Leipziger im Jahre 1989 und vom Fall der Mauer. Da hatten Hamburg und Frankfurt und Stuttgart keine Chance mehr.
Kritiker beschimpfen ihn als "Teflon-Mann"
Das Spektakel lenkte lange ab von weniger gelungenen Auftritten Tiefensees. Dass er sich immer energisch fern hielt von der sächsischen SPD, deren Niedergang auf zuletzt 9,8 Prozent ihm erkennbar gleichgültig war. Dass die Olympia-Bewerbung letzten Endes kläglich scheiterte und Geld aus der Olympia-Kasse in dunklen Kanälen versickert war. Im Rathaus selbst stolperten enge Mitarbeiter Tiefensees über Affären. Dem Sumpf des sächsischen Verfassungsschutzes entkam er nur mit Mühe. Dass Leipzig bei der Arbeitslosenquote Spitze in Sachsen ist, wurde verdrängt. Einen Scherbenhaufen habe er in Leipzig hinterlassen, schimpfen seine Kritiker, die ihn gerne als "Teflon-Mann" bezeichnen - einer, an dem nichts hängen bleibt. Auch einer, der zu allem etwas sage, doch hinterher wisse niemand, was er eigentlich gesagt hat.
Die harschen Urteile treffen so pauschal nicht zu. Er hat BMW und Porsche nach Leipzig geholt. Hat die Post-Tochter-DHL mit dem größten Luftfrachtkreuz dort angesiedelt. Hat tausende von Arbeitsplätzen in der Stadt geschaffen. Er war der Vater von "Boomtown Leipzig."
SPD-Linke verspottet ihn als "Mehdorns Knecht"
Doch beim Wechsel in die Berliner Politik ist er dort nie angekommen. Er feuerte unverzüglich die beamteten Staatssekretäre Ralf Nagel und Tilo Braune, beide alt gediente und erfahrene Kenner der Verkehrspolitik. Ersetzt hat er die Substanz an Sachverstand etwa durch Staatssekretär Engelbert Lütke Daldrup, einen alten Spezi aus Leipziger Tagen. Bis heute hat der naive Tiefensee hingenommen, dass Bahnchef Harmut Mehdorn stets Bahnpolitik an ihm vorbei im direkten Kontakt und einem Glas Rotwein im Kanzleramt gemacht hat. Der hatte jederzeit direkten Zugang zu Gerhard Schröder und heute auch zu Angela Merkel. Es war nicht Tiefensee, der Werner Müller als neuen Aufsichtsratschef der Bahn aussuchen durfte, es war Mehdorn. Der Minister ließ sich von Mehdorn auch für ein Bahn-Privatisierungskonzept instrumentalisieren, das bei der SPD zu keiner Zeit eine echte Chance hatte. Als "Knecht Mehdorns" verspottet ihn die SPD-Linke seit langem. Allenfalls spiele Tiefensee die zweite Geige bei der Bahnpolitik. Typisch sei doch, dass er ganz nebenbei nur von Mehdorn über die Absicht unterrichtet worden sei, die Bahnzentrale von Berlin nach Hamburg zu verlegen.
Devise: Augen zu und durch
Der Verkehrsminister ignorierte die Kritik der Genossen an seiner Politik beharrlich. Augen zu und durch, hieß seine Devise. Viele vermuten, dass der gelernte Diplomingenieur aus Gera mehr aus Versehen in der SPD gelandet ist denn aus Überzeugung. 1995 erst holte er sich ein Parteibuch, auf Anraten des damaligen Leipziger Oberbürgermeisters Hinrich Lehmann-Grube. Wäre der ein Christdemokrat gewesen, so wird gespottet, dann wäre auch Tiefensee heute CDU-Mann. Er hat kein Bundestagsmandat und damit auch in der SPD-Fraktion kein Netzwerk. Er spielt in der Politik am liebsten allein. Und wenn er Beratung benötige, so die Kritiker, dann stelle er sich stets vor den Spiegel und spreche mit sich selbst. Dass man die Menschen für seine Politik mitnehmen muss, hat er bis heute nicht begriffen. Welch geringes politisches Gewicht ihm in der SPD zugemessen wird, wurde in Hamburg bei der Wahl der Beisitzer im SPD-Vorstand offenbar. Er musste in den zweiten Wahlgang, weil er in der ersten Runde die erforderlichen 250 Stimmen nicht erreicht hatte - eine herbe Blamage für einen Bundesminister. Und selbst in Runde zwei reichte es nur für 352 Stimmen.
Eine lange Liste politischer Pleiten
Das war nicht nur die Quittung für die in den Augen der Genossen völlig verfehlte Bahnpolitik. Er wurde auch abgestraft, weil er sich politisch auch an anderen Fronten reichlich blamiert hat. Mal wollte er wieder mehr Frauen in die Ost-Länder zurück locken und schlug für den Osten den Bau von Mehrgenerationenhäusern und den Einsatz von rollenden Bibliotheken vor. Mal verkündete er stolz, in China werde die bestehende Transrapid-Strecke verlängert. Bis heute ist nichts geschehen. Dann wollte er die Kfz-Steuer auf CO2-Basis umstellen. Sehr unsozialdemokratisch gedacht: Denn damit würden ärmere Leute bestraft, die sich kein neues Auto leisten können. Dann scheiterte er bei der geplanten Privatisierung der Flugsicherung. Bei der Bahnprivatisierung stimmte er sich mit den Fraktionen der Koalition nicht ab. Beim Aufbau Ost ist von der Anwerbung neuer Investoren wenig zu sehen. Ein besonders absurder Einfall: Tiefensee wollte Hartz-IV-Empfänger an den Bahnhöfen als Patrouillen im Nahverkehr einsetzen. Der Virtuose am Cello vergeigt alles.
Nach Hamburg ist es noch einsamer geworden um den Solisten Tiefensee. FDP-Chef Guido Westerwelle gibt eine zutreffende Analyse seiner politischen Situation: "Herrn Tiefensees politische Beerdigung ist bereits beschlossene Sache. Es geht nur noch darum, ob es eine erster oder zweiter Klasse wird. Ich vermute zweiter Klasse - die Leiche trägt die Kerze selbst."