Im Kalender des Kanzlers steht dieser Tage ein missverständlicher Termin. Für Mitte Juni hat die Schweiz zu einer "Friedenskonferenz" geladen. Und weil neben Olaf Scholz angeblich auch noch ein paar andere Staats- und Regierungschefs kommen wollen, glauben manche, dass von der Tagung ein großes Signal des Friedens ausgehen könnte, ein diplomatischer Vorstoß, vielleicht sogar ein Plan, um den Krieg in der Ukraine rasch zu beenden.
Wäre schön. Ist aber leider illusorisch.
Pünktlich zur so genannten Friedenskonferenz geht der Krieg in der Ukraine in eine neue Phase, womöglich beginnt er jetzt erst richtig. Die schrecklichen Bilder aus Charkiw, wo Russland einen Baumarkt in Schutt und Asche bombte, haben in Berlin und anderen Hauptstädten dafür gesorgt, ein Verbot für Kiew zu überdenken: Warum, so fragen jetzt viele, erlauben wir der Ukraine nicht endlich, sich offensiver zu verteidigen und mit unseren Waffen auch militärische Ziele auf russischem Gebiet anzugreifen?
Kehrtwende per Nebensatz
Auch Scholz, der sich in der Regel erst bewegt, wenn es gar nicht mehr anders geht, scheint keine Einwände mehr gegen einen flexibleren Einsatz westlicher Waffen zu haben. Die Ukraine habe "völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie tut", sagte der Kanzler, als er am Dienstag den französischen Präsidenten zu Besuch hatte. Was, wie so häufig bei Scholz, nur nach dreimaligem Lesen verständlich war und übersetzt so viel hieß wie: So lange keine russischen Zivilisten zu Schaden kommen, geht alles.
Es ist eine erstaunliche Kehrtwende von Scholz. Zur Europawahl lässt er sich als Friedenskanzler plakatieren. Gleichzeitig kassiert er mit einem Nebensatz ein zentrales Paradigma dieses Krieges – und eine Regel, an die er noch vor ein paar Tagen selbst erinnerte.
Emmanuel Macron gab dafür den Anstoß. Dass Frankreichs Präsident gern der Erste ist, wenn es um Neuigkeiten in der westlichen Strategie geht, hat eine gewisse Tradition, seit er mal einen Tag vor Olaf Scholz die Lieferung von Schützenpanzern verkündete. Joe Biden dürfte nun bald folgen, in seiner Regierung wird seit längerem schon über mehr Freiheiten für Kiew diskutiert. Ein solches Manöver ist ohne den Segen Washingtons nicht vorstellbar.
Ist das nicht Wahnsinn? Jetzt, in dieser Phase des Kriegs, Angriffe auf russische Ziele freizugeben? Natürlich kann man sich fragen, warum über eine Offensive geredet wird, obwohl nicht einmal die Verteidigung gut klappt. Trotz vieler europäischer Bekenntnisse fehlt es an Munition, an Panzern, an Flugabwehrsystemen. Russische Depots und Nachschubrouten anzugreifen, mag Putins Armee schwer schaden, macht aber die Ukraine noch nicht sicherer.

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Trotzdem ist die neue Strategie richtig. Die Lage an der Front ist düster. In der Ukraine macht sich Kriegsmüdigkeit breit. Putin setzt darauf, dass auch dem Westen die Kraft ausgeht. Es braucht dringend ein Signal, um diesen Eindruck gar nicht erst entstehen zu lassen. Hier ist es.
Auch Nichtstun kann in einer Eskalation enden
Die Sorge vor einer Entfesselung des Kriegs ist ein schwaches Argument. In einem Krieg besteht immer die Gefahr, dass die andere Seite überreagiert, und natürlich will jeder neue Schritt gut abgewogen sein. Aber man muss kein Balte sein, um zu fürchten, dass Putin in seiner imperialistischen Fantasterei längst über die Ukraine hinausdenkt.
Je weiter er vorrückt, desto mehr dürften die Länder an der Ostflanke der Nato sich auf eigene Faust verteidigen wollen – ohne Absprachen, ohne Einbettung in eine einheitliche Strategie. Der gemeinsame Kurs des Westens wäre am Ende, zur Freude Putins.
Der Krieg kann jetzt eskalieren? Klar. Aber auch Nichtstun kann in einer Eskalation enden.