Manchmal holt der Fluch der bösen Tat Politiker erst sehr viel später ein. Bei Theo Waigel dauerte es exakt 14 Jahre. 1981 hatte der CSU-Mann daran mitgewirkt, dass ein Haushalt der sozial-liberalen Koalition im Vermittlungsausschuss landete. 1995 regierte Waigel dann selbst als Finanzminister - und mutierte unversehens zum reuigen Sünder. "Damals war ich auf der anderen Seite. Ich sage nur: Ich täte es nicht mehr."
<zwriti>Die Blockierer von heute sind die Blockierten von morgen
Ort des Bekenntnisses: Eben der Vermittlungsausschuss, wo Waigel seinen vom Bundesrat gestoppten Etat verteidigen musste, unter anderem gegen Gerhard Schröder. Der hatte die von Waigel gelernte Lektion noch vor sich:
So ändern sich die Zeiten - nicht. Wenn sich jetzt die Vermittler zum vorweihnachtlichen Finale furioso um die Agenda 2010 treffen, sind wieder nur die politischen Verhältnisse umgekehrt: Rot-Grün regiert im Bund, Schwarz-Gelb beherrscht den Bundesrat. Die Themen aber sind dieselben geblieben: Es geht um Arbeit, Steuern und natürlich wieder um den Bundeshaushalt.
Es geht um Schröders politische Zukunft
Es geht dabei jedoch auch um Gerhard Schröders politische Zukunft. In der Hand haben sie, vordergründig betrachtet zumindest, 32 Politiker, die nicht gerade alle zur allerersten Garnitur gehören. "Das also sind die Jungs und Mädels, die über das Schicksal der Nation entscheiden", spöttelte ein Kabinettsmitglied jüngst angesichts solcher Größen wie Werner Kuhn (CDU) oder Nicolette Kressl (SPD), die bis spätestens Mitte Dezember einen Vorschlag ausbaldowern sollen, dem Bundestag und Länderkammer zustimmen können.
Totalblockade ist eher unwahrscheinlich. Die Erfahrung früherer Jahre lehrt: Ein bisschen was geht immer. Nur knapp zwölf Prozent aller Vermittlungsverfahren endeten bislang ohne Einigung. Bei der Kompromisssuche hilft, dass die Kungelkammer vertraulich tagt, die Protokolle dürfen frühestens nach fünf Jahren veröffentlicht werden. Das fördert beidseitig die Bereitschaft nachzugeben. Es wird gefeilscht und gefrotzelt, auch und gerade zwischen Parteifreunden. So krähte Oskar Lafontaine 1995 mal dazwischen: "Herr Kollege Schröder hat gesagt, was ich sage, das hätte Gewicht. Stellen Sie sich das mal vor."
Alle Teilnehmer wüssten, sagt die einstige SPD-Vermittlerin Ingrid Matthäus-Maier: "Jeder, der den Ausschuss verlässt, muss etwas vorweisen können." Geht es hart auf hart, beginnt eine Sitzung morgens um neun und endet weit nach Mitternacht. Im Dezember 1981 verzeichnet das Protokoll auch folgende Szene: Vorsitzender Vogel: "Herr Westphal, Sie haben sich zu Wort gemeldet." Abgeordneter Westphal: "Ich habe keine Lust mehr." Ministerpräsident Späth: "Das verbindet uns!" Ministerpräsident Stoltenberg: "Wir alle sind in einem Zustand totaler Überarbeitung."

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Es drohen Marathonsitzungen
Auch jetzt drohen solche Marathonsitzungen. Fit, Herr Schmidt? Aber hallo, antwortet Wilhelm Schmidt, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. "Ich bin körperlich fit, fühle mich seelisch ausgeglichen und gut vorbereitet." "Wir sind alle ausgebuffte alte Sitzer", sagt auch sein Fraktionskollege Ludwig Stiegler. "Da hat sich jeder schon seine 1000 Nächte um die Ohren geschlagen."
Die reine Freude ist das nicht. Im Vermittlungsausschuss herrscht eher eine Atmosphäre wie bei den armen Brüdern. Alkohol ist verpönt, qualmen tun meistens nur die Köpfe, und kulinarisch endet es in der Regel bei "Krankenhaus-Schnittchen" (Stiegler).
Früher gab‘s nicht mal die. Wenn die Mägen spät nachts allzu heftig knurrten, schlug die Stunde der Stuttgarter Sozial(!)ministerin Annemarie Griesinger. Aus ihrer nahe gelegenen Landesvertretung ließ sie einen Eimer schwäbische Linsensuppe herbeischaffen, damit die Unterhändler nicht schlappmachten: "Die Bube müsse ebbes zum esse kriege, sonst wird des nix."
In der Berliner Republik kommt höchstens ein heißes Würstchen auf den Tisch. Und zwar schön der Reihe nach. Wenn der Wagen mit der Ware um Mitternacht eine zweite Runde dreht, tönt es von der rechten Seite, wo die Ländervertreter hocken, schon mal futterneidisch: "Diesmal aber zuerst bei uns."
Hintergrund
Zeitdruck beim Kuhhandel
Von der Steuerreform bis zum Kündigungsschutz: Wie der Vermittlungsausschuss arbeitet und worum es dabei geht
Kraftprobe: Kanzler Schröder, CDU-Chefin Angela Merkel beim Fäusteln Die Situation ist vertrackt. Der Kanzler will, aber er kann nicht - jedenfalls nicht ohne die Opposition. Die hat im Bundesrat praktisch alle Reformgesetze blockiert, die er seiner Koalition aufgenötigt hatte. Damit er und seine Agenda 2010 nicht scheitern, ist Gerhard Schröder nun auf den Vermittlungsausschuss angewiesen, der einen Kompromiss aushandeln soll - unter hohem Zeitdruck: Da viele Gesetze zu Jahresanfang gelten sollen, muss das Vermittlungsergebnis so rechtzeitig vorliegen, dass der Bundesrat in seiner letzten Sitzung am 19. Dezember zustimmen kann. In den Ausschuss entsenden Bundestag und Bundesrat jeweils die Hälfte der 32 Mitglieder, das Parlament nach Stärke der Fraktionen, die Länder schicken je ein Regierungsmitglied, meist den Ministerpräsidenten oder den Finanzminister. Politisch gibt es derzeit ein Patt: Rot-Grün und Opposition haben je 16 Sitze. Bundesminister dürfen im Ausschuss reden, aber nicht mitstimmen. Jeder Vermittler hat einen Vertreter, der bei Bedarf einspringen kann, bei CDU/CSU etwa Edmund Stoiber oder Angela Merkel. Deren Präsenz ist aber nicht nötig; die Mitglieder sind laut Geschäftsordnung frei, machen aber in der Regel nichts ohne Okay ihrer Oberen. Eigentlich gilt: Jedes Gesetz wird gesondert behandelt. Diesmal hängt alles mit allem zusammen - Zeit für Kuhhändel, die zwei Arbeitsgruppen vorbereiten. Auf der Agenda stehen das Vorziehen der Steuerreform und deren Finanzierung, der Abbau von Subventionen wie der Pendlerpauschale und das Schließen von Steuerschlupflöchern, der Verzicht auf den Meisterbrief für viele Berufe, die Gewerbesteuerpflicht für Freiberufler, schärfere Regeln für Langzeitarbeitslose, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. All diese Vorhaben betreffen die Länder, sie sind "zustimmungspflichtig" und, falls die Vermittlung fehlschlägt, gescheitert. Nur die "Einspruchsgesetze" könnte Rot-Grün dann noch durchsetzen - aber nur mit Kanzlermehrheit. Kein Problem bei der Tabaksteuer. Ein großes beim gelockerten Kündigungsschutz, den die SPD-Linke ablehnt. Vertrackte Lage eben.
Andreas Hoidn-Borchers
Die Blase muss einiges aushalten können
Auch die Blase muss einiges aushalten können. Geht‘s ums Eingemachte, gilt der Lehrsatz der schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis: "Politik ist der Sieg des Hinterns über das Gehirn. Wer laufend aus der Verhandlung rausmuss, hat schon verloren." Andererseits wird im Ausschuss ein dringendes Bedürfnis öfter sogar vorgetäuscht, ein stilles Örtchen nur zum Telefonieren mit den Parteioberen gesucht, um deren Plazet einzuholen. Denn im Sitzungssaal gilt die Devise: Handys aus! Im Prinzip jedenfalls. Der langjährige Vorsitzende Heribert Blens (CDU) sah das nicht ganz "so pingelig. Da drückt man mal ein Auge zu, wenn einer mit seiner Parteispitze reden muss."
Ist jedenfalls besser, als vor dem Saal lungernden Journalisten vors Mikro zu laufen. "Jeder, der pinkeln geht, wird angehauen. Und jeder Politiker sagt dann was", weiß Blens. In Bonn gab‘s Abhilfe. Sitzungsraum und die Beratungszimmer für Regierung und Opposition lagen übereinander. Blens: "Wir sind da alle über die Feuerleiter rauf und runter." Und sein Mithangler Hans-Peter Repnik feixt: "Wir haben uns zum Kompromiss gefensterlt." In den Protokollen liest man das natürlich nicht. Dafür findet man schöne Belege für die Beurteilung der Beteiligten:
- Lafontaine, der Lebemann, dem das allzu frühe Aufstehen ein Graus ist und der um einen möglichst späten Beginn der Sitzung feilscht. Die Wahl zum SPD-Chef erlöst ihn. Er verlässt das Gremium und steuert seine Partei von außen auf Blockadekurs.
- Stoiber, der Streber, der verkündet: "Ich werde im Gegensatz zu Herrn Schröder immer von mehreren Mitarbeitern begleitet."
- Voscherau, der Volksschauspieler, der große Auftritte liebt, gern sein großes Latinum raushängen lässt und auch mal Neusprachliches einflicht. "Es gibt in Hamburg den englischen Satz, der lautet: The proof of the pudding is in the eating."
Probieren geht über studieren
Was auf gut Deutsch heißt: Probieren geht über studieren - und manchmal ordentlich schief gehen kann. Etwa wenn der Ausschuss in einer Mischung aus Überdruss und Übermüdung nächtens einen Kompromiss zusammendengelt, der dem Realitätstest nicht standhält. "Ich will nicht wieder nachts um drei einen Unsinn wie die Spesenbesteuerung beschließen, den ich zwei Tage später niemandem mehr erklären kann", klagte Heide Simonis im Rückblick auf das Jahressteuergesetz 1996. Und der einstige Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) befand: "Einige Geschäftsordnungen von Gemeinderäten verbieten Beschlüsse nach 23 Uhr. Das ist eine sehr weise Vorschrift."
Einmal musste die Runde unnötigerweise nachsitzen, Schuld hatte Theo Waigel. Es war Anfang der neunziger Jahre, eine Einigung zeichnete sich früh ab, und Waigel ging einen Zug Frischluft schnappen. Draußen fiel er einem TV-Team in die Hände. "Wie lange dauert es denn noch?" Waigel arglos: "Ach, höchstens noch ´ne Stunde." Ein schwerer Fehler. Zurück im Sitzungssaal, fielen die Kollegen über ihn her. Blens machte ihn an: "Wir können uns draußen doch erst wieder sehen lassen, wenn wir uns mehrere Stunden gefetzt haben." Ingrid Matthäus-Maier: "Von uns wird erwartet, dass wir nach Mitternacht mit grauen Gesichtern erschöpft vor die Kameras treten."
"Sie hat mich einen elenden Lügner genannt"
Am sauersten war der heutige Bundespräsident Johannes Rau. "Eben habe ich meine Frau angerufen, die Gäste zu einem Hauskonzert eingeladen hat, und habe gesagt, das dauert hier leider, leider noch Stunden. Musiziert halt ohne mich." - "Na und?", bemerkte Waigel. Rau: "Sie hat mich einen elenden Lügner genannt, denn eben sei der Waigel im Fernsehen gewesen und habe gesagt, dass es nur noch eine Stunde dauert." Nur aus Daffke, erinnert sich Waigel, hätten die Kollegen dann noch fünf Stunden miteinander gefeilscht.
Für das aktuelle Vermittlungsverfahren ist Waigel übrigens optimistisch. Weil im Ausschuss Leute sitzen, "die wissen, wie eine Veranlagung aussieht". Bayerns Vertreter Erwin Huber etwa, der Steuerinspektor war und nicht wie andere "auf die Vermerke ihrer Knechte" angewiesen sei. Auch Waigels roter Mit-Bayer Stiegler setzt auf die Pragmatiker: "Die Finanzminister gucken aufs Geld." Gefährlicher wird's, wenn ihre Chefs sich einschalten. Die entscheiden oft nicht nach Kassenlage, sondern aus politischem Kalkül. "Der Roland Koch sagt: Notfalls baue ich meinen Haushalt um, aber das mache ich nicht mit." Na dann, frohe Vorweihnacht!
Andreas Hoidn-Borchers/Hans Peter Schütz/Lorenz Wolf-Doettinchem