Ein neuer Streit innerhalb der Koalition direkt nach der Sommerpause hat bei der Opposition und der Wirtschaft für Kritik und Unverständnis gesorgt.
Anders als geplant hatte das Kabinett am Mittwoch nicht das sogenannte Wachstumschancengesetz von Finanzminister Christian Lindner (FDP) verabschiedet – ein Paket mit steuerpolitischen Maßnahmen, die die Wirtschaft um jährlich rund 6,5 Milliarden Euro entlasten sollen. Familienministerin Lisa Paus blockierte das Vorhaben, in der FDP war von einem Erpressungsversuch die Rede. Die Grünen-Politikerin fordert mehr Geld für die Kindergrundsicherung. Die Koalitionäre hatten zuletzt bei mehreren Themen über Kreuz gelegen.
Scholz will das Wachstumschancengesetz "noch ein bisschen schöner zu machen"
Der Kanzler will den aktuellen Streit rasch beenden. "Wir beschließen noch in diesem Monat ein Wachstumschancengesetz", versicherte Scholz am Mittwoch auf dem NRW-Unternehmertag in Düsseldorf. Das Gesetz werde bei der Kabinettsklausur in Meseberg beschlossen werden. Die wenigen Tage bis dahin werde man nutzen, um das Gesetz "noch ein bisschen schöner zu machen", sagte Scholz.
So reagieren deutsche Medien auf den neuerlichen Ampelzoff:
"Badische Zeitung" (Freiburg): "Mit der Blockade des geplanten Wirtschaftschancengesetzes steht die Ampel wieder dort, wo sie schon im Frühjahr war – nahe am Abgrund, zuweilen taumelnd vor Schwindel und gehalten hauptsächlich vom politischen Überlebensinstinkt: Eine falsche Bewegung und wir sind weg vom Fenster. Wobei mit 'Bewegung' der Koalitionsbruch und mit 'weg vom Fenster' die Aussichten bei der nächsten Wahl gemeint sind.
"Stuttgarter Zeitung": "Kaum ist das Kabinett aus dem Urlaub zurück, geht es weiter wie bisher. Diesmal verursacht Familienministerin Lisa Paus (Grüne) mit einem Alleingang Streit. Mit einem sogenannten Leitungsvorbehalt hat sie verhindert, dass das Wachstumschancengesetz von Finanzminister Christian Lindner (FDP) das Kabinett passieren konnte. Das wirkt wie ein Revanchefoul. [...] Dabei ist Lindners Vorhaben durchaus wichtig. Er wollte mit dem Gesetz durch rund 50 steuerpolitische Maßnahmen Unternehmen entlasten. In einer Zeit, in der die deutsche Wirtschaft schrumpft, Manager über die Standortbedingungen klagen und sich viele Menschen Sorgen über die wirtschaftliche Entwicklung machen, eigentlich ein guter Impuls. Doch nun entsteht der Eindruck: Ganz Deutschland redet über die Wirtschaft – und die Ampelkoalition kreist mal wieder um sich selbst.
"Die Selbstblockade einer Koalition der Saft- und Kraftlosen geht in eine neue Runde"
"Märkische Oderzeitung" (Frankfurt/Oder): "Politiker begründen ihr Handeln öffentlich immer mit fachlichen Argumenten [...] Dass Familienministerin Lisa Paus (Grüne) ein Gesetz zur Entlastung und Belebung der Wirtschaft blockiert, liegt weniger an sachlichen Einwänden gegen das Vorhaben. Sondern daran, dass sie noch mit Christian Lindner (FDP) hadert, der in den Haushaltsverhandlungen ihre Pläne für die Kindergrundsicherung zurechtgestutzt hatte. Willkommen im Ampel-Kindergarten! Obwohl es gerade eher nach einem Grünen-Kindergarten aussieht, denn bei der Ablehnung des Wachstumschancengesetzes sind die Kabinettsmitglieder des Koalitionspartners gespalten. Vizekanzler Robert Habeck befürwortet Lindners Gesetz – schafft es aber augenscheinlich nicht, seine Macht in der Partei geltend zu machen und für eine einheitliche Linie zu sorgen. Das wirkt unprofessionell."
"Handelsblatt": "Nach der unseligen Heizungsdebatte stoppt nun die grüne Familienministerin die Steuererleichterungen für die Wirtschaft. Die Selbstblockade einer Koalition der Saft- und Kraftlosen geht in eine neue Runde. Wen wundert es da noch, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Regierenden auf einem neuen Tiefstand angekommen ist? Nicht mal während der Coronazeit war die Entfremdung zwischen Bürger und Staat so stark wie jetzt. Nach dem Veto von Lisa Paus dürfte die tiefe Unzufriedenheit mit der Handlungsfähigkeit des Staates noch weiter zunehmen."

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"Paus erinnert an das Verhalten von Fußballern ohne Siegchance"
"Focus": "Lisa Paus gehört zu den schwächsten Kabinettsmitgliedern. Dass sie bis heute nicht erklären kann, wofür die von ihr für die Kindergrundsicherung ursprünglich verlangten 12 Milliarden Euro (pro Jahr!) konkret verwendet werden sollen, zeugt von einem amateurhaftem Politikstil. Paus erinnert an das Verhalten von Fußballern ohne Siegchance. Wie sagte doch einst der Schalker Rolf Rüssmann: 'Wenn wir hier nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt.' [...] Paus hat demonstriert, woran diese Koalition von Anfang an krankt: Die inhaltlichen Schnittmengen zwischen SPD, Grünen und FDP sind zu klein, um eine kohärente Reformpolitik zu betreiben. Wenn dann noch der nominal wichtigste Spielmacher, der Kanzler, als Impulsgeber weitgehend ausfällt, sehen Spielverderber wie Paus ihr Chance – zur eigenen Profilierung."
"Redaktionsnetzwerk Deutschland": "[...] Stattdessen geht es zu wie im Sandkasten: Machst du meine Burg kaputt, mach ich deine Burg kaputt. Die Stimmung in der Regierung ähnelt der in einer Familie, die nach der Rückkehr aus dem Urlaub feststellt, dass es im Haus einen Wasserrohbruch gegeben hat. Und während Scholz noch am Wochenende einen anderen Ton ankündigte, nennt FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki das Agieren der Familienministerin jetzt 'einfach nur dumm'. Dabei ist Konfliktlösung Chefsache."