Wahlhelfer Rüdiger Reich erzählt Merkels Wahllokal ist eine Baustelle

Er ist der Mann, dem die Kanzlerin ihren Personalausweis zeigen muss - dann darf sie wählen: Rüdiger Reich, 71, ehrenamtlicher Leiter des Berliner Wahllokals 228. Ein Ortstermin.

Diesen Mann bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Seit fast einem viertel Jahrhundert ist Rüdiger Reich ehrenamtlicher Helfer im Wahllokal 228, Berlin Mitte. Aber jedes Mal, wenn Bundestagswahl ist, starrt halb Deutschland auf ihn.

71 ist er inzwischen, könnte längst in Rente sein, aber er muss immer was tun. Stundenweise arbeitet er am Bundesrechnungshof. Versorgt seinen vierjährigen Sohn. Und macht den Wahlhelfer. Warum tut er sich den Stress überhaupt an? "Ich könnte jetzt tolle Dinge von staatsbürgerlicher Pflicht erzählen", sagt Reich. "Aber ich mache das vor allem aus Spaß an der Freude." Er mag diese Spannung am Wahltag und die vielen verschiedenen Menschen, die er da trifft - vom Domprediger über den Tänzer an der Oper bis zum Souvenirhändler. "Dass Angela Merkel irgendwann mal dazu kommen würde konnte ich ja nicht wissen."

Das Wahllokal: ein Zelt

Die Kanzlerin wohnt gleich um die Ecke, am Kupfergraben. Früher, als sie noch nicht die erste Frau der Republik war, kam sie einfach zu Fuß in die Dorotheenstraße. Ist ja nur ein kleiner Spaziergang. Geht jetzt nicht mehr. Sicherheit und so. Nun fährt sie mit dem Auto vor.

Dumm nur: Das eigentliche Wahllokal der Kanzlerin ist diesmal Baustelle. Seit fast vier Jahren wird die Mensa der Humboldt-Universität umgebaut. Deshalb muss Angela Merkel in einem seltsamen Provisorium wählen: im zweistöckigen Mensa-Zelt mitten im Hof der Uni. Es erinnert ein bisschen ans Oktoberfest, die Planen am Eingang sind verschmuddelt, das Pflaster davor aufgerissen. Egal. Angela Merkel wird darüber hinweg sehen.

Die Deko: drei Fahnen

Hauptsache, die "große Hardware" ist da, wie Rüdiger Reich das nennt: Wahlkabinen, Wahlurne, Wegweiser. Und natürlich die "eigentlichen Kostbarkeiten". Die holt er am Samstag vor der Wahl am Bezirkswahlamt ab. Mit der U-Bahn, denn Auto hat er keins. In zwei Mappen aus grauer Pappe sind Wählerverzeichnis, Stimmzettel, drei Fahnen (Europa, Deutschland, Berlin) und noch so einiges verpackt, was man zum Einrichten eines Wahllokals braucht.

Am Sonntag ist Reich um kurz vor sieben Uhr an der Humboldt-Uni. Schlüssel beim Hausmeister holen. Außencheck: im Umkreis von 30 Metern darf kein Wahlplakat hängen. Umräumen. Seine sechs Mitarbeiter packen die gemütlichen Korbstühle weg, stellen Eingangstisch und Vorstandstisch auf, kleben die Glaswand hinter den Wahlurnen ab, damit keiner reingucken kann, drapieren ein paar Palmen im Raum.

Im Hintergrund: der Typ vom BKA

Die Fahnen sollen eigentlich hinter dem Tisch des Wahlvorstandes aufgehängt werden. Geht aber nicht, denn da ist die Treppe. "Wir hängen sie hinter die Wahlurnen", beschließt Reich. Und aufgepasst: der Berliner Bär muss in die richtige Richtung gucken. Nach links, zur Deutschlandfahne.

Seit Angela Merkel Kanzlerin ist, kommt immer ein stämmiger junger Mann und schüttelt Reich die Hand: "Ich bin vom Bundeskriminalamt." Irgendwo im Hintergrund steht er rum, bis die Kanzlerin gewählt hat. Ganz dezent, kaum einer kriegt etwas davon mit.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Die Krawatte: dezent, konservativ

Wann sie erscheint, weiß Rüdiger Reich nie so genau. Im vergangenen Jahr war es um 13.30 Uhr, nach dem Mittagessen. Er wird sich auch diesmal für sie in seinen blauen Blazer schmeißen und eine Krawatte umbinden - ganz dezent und konservativ und "auf keinen Fall rot oder grün".

Und wenn sie da ist? "Möglichst locker bleiben, kein Getue, nicht so ehrwürdig", das mag sie nicht. Reich fragt stattdessen verschmitzt: "Und wer sind Sie?" Denn wie alle anderen Wähler muss auch Angela Merkel ihren Ausweis vorzeigen. Soll ja alles seine Ordnung haben. "Dann lächelt sie und zückt ihre Papiere." Und nimmt die nächste frei werdende Wahlkabine.

Auf der Lauer: 30 Fotografen

Alles so normal wie möglich, obwohl natürlich gar nichts normal ist, denn hinter Rüdiger Reichs Tisch warten schon um die 30 Fotografen und Kamerateams.

Reich schiebt die Urne ein wenig nach vorn, damit die Presseleute hinter den rot-weißen Flatterbändern einen guten Blick auf den Einwurfschlitz haben: "Das einzig Besondere, was wir für Angela Merkel machen." Auf den meisten Bildern ist Rüdiger Reich deshalb mit drauf, denn "ich darf die Urne nicht aus den Augen lassen, die ist ja was Kostbares und ich muss auf sie aufpassen."

Tja, und das war's dann schon. Noch ein paar höfliche Worte, und die Kanzlerin rauscht hinaus. Bis zur nächsten Wahl. Wird er dann wieder hier sein? "Klar."

Reichs Rettung: die Briefwahl

Am Wahlsonntag hat Rüdiger Reich übrigens seit 25 Jahren kein Kreuzchen mehr gemacht. Wann sollte er? Keine Zeit. Gut, dass es die Briefwahl gibt.