Verstörendes Pressestatement Warum Anne Spiegel zwar nicht mehr Ministerin bleiben konnte, aber unseren Respekt verdient

Anne Spiegel
Verstörender Auftritt vor der Presse: Familienministerin Anne Spiegel
©  Annette Riedl / DPA
Der Auftritt von Anne Spiegel war verstörend. Noch nie hat sich eine führende Politikerin in dieser Art und Weise entblößt. Ihre Tage als Ministerin sind vorbei, und das ist auch gut so. Was nicht gut ist: Jetzt kübelweise Häme über sie auszugießen.

Wir Journalisten sind schon ein paar merkwürdige Wesen. Wir wissen immer, wie's geht. Wie's gemacht und was getan werden muss.

Was es bei Journalisten selten gibt: Ratlosigkeit. Innehalten. Ein "ich weiß eigentlich auch nicht genau, was ich jetzt davon halten soll".

So ein Gefühl der Irritation hinterließ der Auftritt von Bundesfamilienministerin Anne Spiegel am gestrigen Abend. Es war ein Bild des Jammers, das die Ministerin abgab. Ein Desaster. Was immer Spiegel mit ihrem Auftritt bezweckt haben mag, es ist ziemlich nach hinten losgegangen sein. Vor allem warf ihr Statement schon unmittelbar danach die Frage auf, ob diese Frau in der Politik tatsächlich so gut aufgehoben ist.

Es lag auf der Hand, jetzt stante pede den Rücktritt von Spiegel zu fordern. Und es gab jede Menge gute Argumente dafür. Ihre vordringliche Sorge um das eigene Image beim Handling der Flutkatastrophe ("Wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben."). Der Eindruck der Überforderung, den Spiegel gestern hinterließ. Auch, dass ihr Auftritt die Mutmaßung zulässt, dass Spiegel für ihr eigenes Fehlverhalten das Schicksal ihres Mannes und ihrer Kinder instrumentalisiert, spricht nicht für sie. Und nicht zuletzt, dass sie konkrete Nachfragen zu ihrer Teilnahme an Kabinettssitzungen – egal ob absichtlich oder fahrlässig – fehlerhaft beantwortet hat.

Inzwischen hat Spiegel die Konsequenzen gezogen und ihr Amt zur Verfügung gestellt. Jeder Freund, jeder Berater, der es gut mit meint, dürfte ihr zu diesem Schritt geraten haben. Ganz einfach, um seelischen Schaden von dem Menschen Anne Spiegel abzuwenden. Und das war auch gut so.

Rücksichtnahme? Fehlerkultur? Gilt das alles für Anne Spiegel nicht?

Doch auch nach ihrem Rücktritt wirft Spiegels Auftritt ein paar Fragen auf, über die sich ein Nachdenken lohnt. Wie ernst meinen wir's denn mit der Menschlichkeit in der Politik? Beklagen wir nicht gern die Technokraten der Macht, beschreiben ihre mangelnde Nahbarkeit? Wie war das noch mit Rücksichtnahme in der Pandemie? Fehlerkultur? Mit einem anderen politischen Stil?

Alles nur Gedöns, oder was?!

Mein Punkt ist: Ich mag dieses Politiker-Journalisten-Spiel nicht mehr. Das Belauern. Das Warten auf Fehler. Mir gefällt die Rigorosität im Urteilen nicht, wie sie auch jetzt bereits wieder in der Bewertung von Spiegels Auftritt aufschien. (Mehr darüber können Sie hier nachlesen). Ist ja auch so einfach: "Klebt an ihrem Stuhl!" "Ist überfordert!" Stempel drauf. Ab dafür!

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Wie wäre es stattdessen mal mit Innehalten? Mit Mitgefühl? Mit der "compassion" von Willy Brandt? Da ist jemand, der es ganz nach oben geschafft hat. Der es geht wie mir: Sie ist überfordert. Von ihrem Job. Von Corona. Kann eigentlich nicht mehr. Hat sich aber dennoch breitschlagen lassen, noch ein Projekt zu übernehmen. Und noch eins. Und ist dann gescheitert.

Man kann das auch tragisch finden!

Ich habe miterlebt, wie auch der stern seinerzeit in der Affäre um den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff gemeinsam mit anderen Newsportalen zuletzt ein Bobby Car für Wulffs Sohn zum Anlass für eine Rücktrittsforderung genommen hat. Und finde das heute eher zum Schämen.

Ich weiß noch, wie nach dem Selbstmord von Robert Enke aufgrund seiner Depression ein ganzes Land in Schockstarre geraten ist. Das Innehalten bei der Trauerfeier in Hannover. Die Fassungslosigkeit – auch in den Medien. Der Schwur, in Zukunft besser miteinander umzugehen. Geblieben ist davon heute nicht viel.

Spiegel hat mit privaten Details politisches Versagen erklärt

Was tatsächlich schwer wog: Anne Spiegel hat den Eindruck erweckt, mit privaten Details politisches Versagen erklären zu wollen. Vor allem irritierte es auch wohlmeinende Beobachter, warum sie trotz ihrer privaten Probleme das Amt der Familienministerin überhaupt angetreten hat.

Ja, auch ich möchte zuallererst Profis in der Politik. Die mit kühlem Kopf und sicherem Instinkt klar entscheiden. Anne Spiegel scheint das nicht zu sein, und es ist gut so, dass sie in letzter Minute noch einen würdigen Ausweg aus ihrem selbstverschuldeten Desaster gefunden hat. Aber wenn wir tatsächlich wollen, dass Menschen in der ersten politischen Reihe stehen und nicht Maschinen, dann müssen wir auch unsere eigenen Erwartungen und Bewertungsmaßstäbe an die Politiker korrigieren. Scheitern ist in jedem Job eine Option. Auch in der Politik.

dho