Debatte um "Demütigung" Ist ein guter Draht zu Putin wirklich wichtig? Kommt darauf an, wen man fragt

Bleibt im Gespräch: Russlands Präsident Wladimir Putin
Bleibt im Gespräch: Russlands Präsident Wladimir Putin
© Mikhail Klimentyev/ / Picture Alliance
Die einen sagen so, die anderen so: Einmal mehr streitet die Weltpolitik, ob und wie man Wladimir Putin beikommen kann. Sollten die Vermittlungsversuche der Altkanzlerin eine Mahnung sein?

Ein Wort fällt in der Politik immer wieder: Demut. Amt- und Würdenträger üben sich darin, etwa nach Urnengängen oder Krisenzeiten, allzu oft hängt das eine mit dem anderen zusammen. Wer Demut im Politikbetrieb zeigt, will Achtung und Einsicht signalisieren, um selbst unliebsamen Gegebenheiten einen sinnstiftenden Zweck zu geben. Insofern lässt sich Demütigung als krasses Gegenteil dessen verstehen, die höchstens Wahnsinn stiften kann.

Emmanuel Macron sieht darin eine große Gefahr, daran lassen seine jüngsten Aussagen keinen Zweifel. Der französische Präsident warnt mit Blick auf den Ukraine-Krieg, man dürfe "Russland nicht demütigen", also herabwürdigen oder kränken, um sich einen diplomatischen Ausweg nicht zu verbauen. Unterdessen mahnt Bundeskanzler Olaf Scholz, den Gesprächsfaden mit Kremlherrscher Wladimir Putin nicht abreißen zu lassen. Beide werden für ihre Haltung scharf kritisiert. Ein guter Draht, ausgerechnet zum Aggressor? 

Andrzej Duda zeigte sich "erstaunt" über den Kurs seiner Amtskollegen. Polens Präsident  spart in den vergangenen Tagen ohnehin nicht an Kritik. "Diese Gespräche bringen nichts", sagte er nun der "Bild"-Zeitung. "Sie bewirken nur eine Legitimierung eines Menschen, der verantwortlich ist für Verbrechen, die von der russischen Armee in der Ukraine begangen werden." Duda zementierte seine eigene Haltung mit einem historischen Vergleich: "Hat jemand so mit Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg gesprochen? Hat jemand gesagt, dass Adolf Hitler sein Gesicht wahren können muss?". Solche Stimmen kenne er nicht. "Alle wussten: Man muss ihn besiegen."

Damit nimmt nach 106 Tagen des russischen Feldzugs gegen die Ukraine einmal mehr der Streit an Fahrt auf, wie dem Kriegstreiber aus dem Kreml beizukommen ist, der sich bislang jeder Krisendiplomatie zu verweigern scheint, und ein mögliches Ende der Gefechte erreicht werden könnte. 

Die einen sagen so, die anderen so

Die einen sagen so, die anderen so. Macron sagt: "Die Lage ist besorgniserregend." Er könne die Gespräche nicht mehr zählen, die er seit Dezember mit Putin geführt habe, sagte er Anfang Juni der französischen Tageszeitung "Ouest France", es seien "alles in allem wohl hundert Stunden" gewesen, in aller Transparenz und auf Bitte der Ukraine. "Man darf Russland nicht demütigen, damit wir am Tag, an dem die Kämpfe enden, einen diplomatischen Ausweg finden können", so Macron. Er sei überzeugt, dass dies die Rolle Frankreichs sei, "eine vermittelnde Kraft zu sein."

Dabei wird er offenkundig von Kanzler Scholz unterstützt, der zuletzt mit in der Leitung war – und sich daraufhin erneut in der Situation sah, die gemeinsamen Telefonate zu verteidigen. Die Gespräche seien wichtig, um Putin immer wieder klarzumachen, dass seine Strategie des Angriffs auf die Ukraine nicht aufgehe, sagte Scholz am Dienstag in der litauischen Stadt Vilnius.

Es war ein durchaus bemerkenswerter Termin. Scholz traf bei seinem Besuch auf die Regierungschefs der drei baltischen Staaten, zentrales Thema war der russische Angriffskrieg und die Absicherung der Nato-Ostflanke. Es wurden die gemeinsamen Bemühungen im Kampf gegen Russland betont, allerdings traten auch die Differenzen offen zu Tage.

"Unser Ziel ist eindeutig: Russland muss diesen Krieg verlieren und die Ukraine muss ihn gewinnen", wurde anschließend der lettische Ministerpräsident Krišjānis Kariņš von Reuters zitiert – eine Aussage, die Scholz in dieser Eindeutigkeit bis heute nicht über die Lippen geht. Wie auch der litauische Präsident Gitanas Nausėda kritisierte er Macrons Bemerkung, dass man Russland nicht demütigen dürfe. "Wir werden Russland im Sinne Macrons erniedrigen, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich", sagte er demnach. "Russland hat sich selbst erniedrigt mit diesem Krieg." In Anspielung auf die Gespräche mit Putin fügte er hinzu, es sei sehr kompliziert, mit einem Diktator zu verhandeln. Zuvor hatte auch die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas die Telefonate kritisiert.

Insofern steht der Termin auch sinnbildlich für das Aufeinandertreffen zweier Denkschulen. Die eine hängt der Annahme an, der Westen müsste Putin einen Ausweg weisen, um so wenigstens die Risiken einer weiteren Eskalation des Krieges zu verringern. Die andere sieht darin schlichtweg verschenkte Lebensmüh' und fordert ein beherzteres Handeln. Allein: Was haben die Vermittlungsversuche bislang gebracht? Ein Was-wäre-wenn-Szenario, das sich kaum entschlüsseln lässt.

"Dafür braucht Wladimir Putin unsere Hilfe nicht"

Dennoch äußern Beobachter ihre Skepsis, ob es tatsächlich etwas bringen würde, Putin einen "Ausweg" aufzuzeigen:

  • "Putin einen gesichtswahrenden Ausweg zu eröffnen ist das falsche Ziel", schrieb die Historikerin Anne Spiegel in einem Gastbeitrag für den stern. "Unser Ziel muss Putins Niederlage sein." Weder wolle Putin den Krieg beenden, noch sei davon auszugehen, dass sich Russland einmal verhandelte Vereinbarungen einhalten würde. "Im Grunde genommen ist sogar die schnelle Niederlage – oder um noch einmal Präsident Macrons Worte zu benutzen: die Erniedrigung – die einzige Hoffnung für langfristige Stabilität in Europa.", so Spiegel. "Putin muss nicht nur den Krieg beenden. Er muss zu dem Schluss kommen, dass der Krieg ein schrecklicher Fehler war, einer, der niemals wiederholt werden darf."
  • "Für Putin findet dieser Krieg nicht zwischen Russland und der Ukraine statt", schrieb die Politik-Analystin Tatiana Stanovaya in einem Gastbeitrag für den "Spiegel", die Ukraine sei "nur eine Geisel". "Putin wird den Krieg so lange weiter eskalieren, bis der Westen seine Herangehensweise an das sogenannte Russlandproblem ändert", so Stanovaya. Der Westen verstehe das Problem daher falsch: "In seinem Bemühen, Russlands Krieg zu stoppen, konzentriert er sich auf Moskaus künstliche Vorwände für seinen Einmarsch in die Ukraine." Und übersehe "Putins Besessenheit mit der sogenannten westlichen Bedrohung – sowie seine Bereitschaft, den Westen durch weitere Eskalation zu einem Dialog unter russischen Bedingungen zu zwingen."
  • "Es ist sinnlos, Putin vor dem Gefühl zu schützen, dass er den Krieg verlieren könnte", schrieb der Historiker Timothy Snyder in einem Twitter-Thread, "das wird er selbst herausfinden." Zumal er die heimische Berichterstattung im Griff habe, die jederzeit einen russischen Sieg verkünden könnte. "Dafür braucht er unsere Hilfe nicht", so Snyder. Daher sei es ebenso "sinnlos, in der realen Welt eine 'Ausfahrt' zu schaffen, wenn Putin nur eine in einer virtuellen Welt braucht, die er vollständig kontrolliert." Die Annahme, Russland einen Ausweg weisen zu müssen, würde den Krieg nur verlängern und von der "einfachen Notwendigkeit einer russischen Niederlage ablenken." 

Ob Vermittlungsversuche nun von Nutzen sind oder nicht, lässt sich ebenso wenig mit absoluter Gewissheit sagen. Tagtäglich verändert sich das Kriegsgeschehen und die Geschwindigkeit auf dem Schlachtfeld, belastbare Gewissheiten sind praktisch nicht vorhanden. Und sind es im Umgang mit Russland offenbar nie gewesen, wie Altkanzlerin Angela Merkel zuletzt darlegte.

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Am Dienstag versuchte Merkel bei ihrem ersten öffentlichen Interview nach ihrem Amtsausscheiden zu erklären, was sie alles unternommen habe, um erwartbare Eskalationen zu verhindern, aber schließlich nicht verhindern konnte. Der Rest ist Geschichte: Putin hat auf das reagiert, was er für eine Demütigung Russlands gehalten hat. Allen Vermittlungsversuchen der Altkanzlerin zum Trotz. 

Angesprochen auf den Nutzen einer heutigen Intervention durch Merkel, antwortete sie: "Ich habe nicht den Eindruck, dass es im Augenblick etwas nützt." Putin habe eine Entscheidung getroffen, die sie für fatal und katastrophal halte. "Deshalb gibt es aus meiner Sicht im Augenblick auch wenig zu besprechen."