Chef des Reservistenverbands Patrick Sensburg fordert Verdreifachung der aktiven Reserve

Präsident des Reservistenverbands Sensburg: Mehr Reservisten, mehr Geld
Präsident des Reservistenverbands Sensburg: Mehr Reservisten, mehr Geld
© Jens Krick/ / Picture Alliance
Russland führt Krieg gegen die Ukraine und bedroht ganz Europa. Im stern-Interview erklärt der Präsident des Reservistenverbandes, wie die Bundeswehr wieder fähig zur Landesverteidigung wird.

Herr Sensburg, was haben Sie gedacht, als Boris Pistorius sagte, die Bundeswehr müsse jetzt "kriegstüchtig" werden?
Das Wort Krieg schreckt uns alle ab, weil das etwas ist, was wir mit aller Macht verhindern wollen. Aber genau darum geht es ja: um Abschreckung. Wer Krieg vermeiden will, muss glaubhaft zeigen können, dass er in der Lage wäre, ihn zu führen, durchzuhalten und zu gewinnen. Landesverteidigung fängt mit der Botschaft an: Legt euch besser gar nicht erst mit uns an!

Bisher sprachen Verteidigungspolitiker trotzdem lieber von "verteidigungsfähig" als von "kriegstüchtig".
Wir müssen uns bewusst machen, welche Bedrohung uns erwarten könnte. Und welche Konsequenzen es hat, wenn wir jetzt nicht umdenken. Wer sehen will, wie brutal Krieg ist, der muss nur in die Ukraine gucken. Im Zweifel erschlägt man sich dort mit dem Klappspaten, wenn man nichts mehr anderes hat. Darum geht es. 

Sie finden es richtig gut, dass der Verteidigungsminister das mal so klar ausgesprochen hat.
Der Begriff ist geeignet, allen die Augen zu öffnen, worüber wir hier eigentlich reden. Ja, die Gefahr, die im Raum steht, heißt Krieg. Nichts anderes. Pistorius´ Wortwahl hat wachgerüttelt.

Wie kriegstauglich für die Landesverteidigung ist die Bundeswehr denn in ihrer aktuellen Verfassung?
Bereit sind wir in Europa alle noch nicht. In den vergangenen 30 Jahre haben auch Länder wie Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien geglaubt: Alles wird fein und wir sind nur noch umgeben von Freunden. Russland saß bei wichtigen Fragen mit am Tisch, China wurde ein immer wichtigerer Handelspartner. Also irgendwann, so dachte man, müsste eigentlich nur noch Nordkorea nett werden, dann ist die Welt gut. 

Jetzt übertreiben Sie aber. 
Nur ein bisschen. So ungefähr war doch unser Empfinden. Es lief ja lange positiv. Erst die Wiedervereinigung, dann der Zusammenbruch des Ostblocks. Wir alle haben gedacht: Die großen Panzerschlachten wird es nie wieder geben. Artillerie braucht man nicht mehr. Wir haben sie fast komplett abgeschafft. Das hat Budget für andere Aufgaben gelassen. Dass die Bundeswehr Landesverteidigung leisten muss, haben wir verneint: Sowas gibt es nicht mehr. Deswegen brauchen wir nicht mehr so eine Masse an Soldaten. So haben wir 2011 die Aussetzung der Wehrpflicht begründet. 

Und heute?
Gilt "Kommando zurück". Jetzt richten wir uns schon länger wieder mehr auf klassische Landesverteidigung aus. Das war auch eine Folge des russischen Überfalls auf die Krim 2014. 

Gehen wir das doch mal durch: Wenn Sie nun hören, die Bundeswehr solle "kriegstüchtig" werden, was heißt das für die Reserve?
Am besten fängt man mit der aktiven Reserve an. Das sind die etwa 33.000 Männer und Frauen, die auf einer sogenannten Spiegelstelle regelmäßig üben. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Also diejenigen, die auf einem Dienstposten fest eingeplant sind als Vertretung für Berufs- oder Zeitsoldaten, die im Bündnisfall an die Front verlegt würden. 
Richtig. Im Fall der Bündnisverteidigung ginge es ja wahrscheinlich darum, an der Nato-Ostflanke einen russischen Angriff abzuwehren. Das würde viele Kräfte der aktiven Truppe binden, deren Aufgabe hier in Deutschland dann Reservisten auf ihren jeweiligen Spiegelposten übernähmen. Das wäre die erste Welle.

Aber dabei bliebe es nicht, oder?
Das hängt davon ab, wie schnell es gelingt, den Angriff abzuwehren. Wenn zu viel Zeit ins Land geht, gäbe es sicher eine zweite und eine dritte Welle, ja. Die beträfe dann alle unter 65, die mal bei der Bundeswehr waren, vom einstigen Wehrpflichtigen bis zum Ex-Berufssoldaten – völlig egal, ob sie danach noch einmal Kontakt zur Truppe hatten. 

Bei den meisten davon dürfte es lange her sein, dass sie ein Gewehr in der Hand hatten.
Deshalb ist es für die langfristige Durchhaltefähigkeit wichtig, dass wir die Leute hier im Land parallel ausbilden können. Ab einem gewissen Zeitpunkt würden wir auch Reservisten nach vorne an die Front schicken, wo ja weiter der Krieg tobt. Wir sehen das in der Ukraine, dort kämpfen in der Truppe an der Kontaktlinie inzwischen mehr als 70 Prozent Reservisten. Im Bündnisfall würde sich zugleich die Frage stellen, welche Aufgaben wir als Reservisten beim Heimatschutz übernehmen müssen.

Was heißt das konkret?
Heimatschutz ist eine klassische Aufgabe der Reserve. Das war sie auch im Kalten Krieg. Es geht dabei um Sicherungsaufgaben, also um den Schutz von militärischer und militärisch relevanter ziviler Infrastruktur, von wichtigen Kraftwerken zum Beispiel. Das kann die Polizei nicht alles leisten. 

Und die Reserve kann das?
Wir haben vergangenes Jahr das erste Heimatschutzregiment in Bayern in Dienst gestellt, dieses Jahr zwei weitere in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Insgesamt sollen es sechs werden, mit jeweils 1000 Soldaten. Das läuft gut bisher, das ist ein Anfang, aus dem wir lernen wollen. 

Wie stark müsste die Reserve denn realistischerweise aufgestellt sein, um kriegstauglich zu sein?
Kriege werden mit der aktiven Truppe begonnen und mit der Reserve beendet. Das ist ein alter Spruch. Aber der gilt immer noch. Daher würde ich mir zuerst eine ausreichend große aktive Truppe wünschen, die gut ausgerüstet ist. Und ich wünsche mir die Anerkennung, dass wir erheblich viele Reservisten brauchen, um die Aufgaben zu schultern, die auf uns zukommen könnten. Nicht umsonst hat Israel 300.000 Reservisten einberufen. Nicht umsonst sind wir schon bei so vielen Reservisten in der Ukraine. Wir müssen also über Zahlen reden: In ein paar Jahren sollten wir etwa 100.000 Reservisten haben, die regelmäßig üben. 

Das wären mehr als dreimal so viele wie heute. 
Ja, aber sie müssen auch nicht alle jedes Jahr mehrere Wochen lang in Übungen sein. Darum geht es nicht. Ich brauche aber eine ausreichende Zahl an Reservisten, also militärisch Vorgebildeten, um sie im Ernstfall wieder für den Einsatz fit zu machen. 

Ist es nicht unrealistisch, dass sich in den kommenden Jahren auf einmal knapp 70.000 freiwillig melden?
Das ist natürlich ambitioniert, aber die 100.000 werden im Ergebnis noch nicht einmal reichen. Für eine dritte Welle brauchen wir dann viele umbeorderte Reservisten. Sie haben in der Regel lange nicht mit der Bundeswehr geübt. Der Reservistenverband hat sich in den letzten Jahrzehnten aber auch immer um sie gekümmert und das ist nun ein Glücksfall. Wir stellen fest, dass das Interesse an Engagement in der Reserve wächst. Auch der Reservistenverband bekommt zurzeit wieder mehr Mitglieder. 

Wie erklären Sie sich das?
Mit dem neuen Fokus auf die Bündnis- und Landesverteidigung. Viele, die zu uns kommen, sagen: Warum die Truppe so lange in Afghanistan war oder in Mali, das haben wir uns nie so richtig erklären können. Und sie sagen auch: Jetzt möchte ich aber dazu beitragen, mein Land zu verteidigen. Die Sinnhaftigkeit der Reserve ist offenbar wieder deutlich stärker zu erkennen als in den zwei Jahrzehnten der Bundeswehr als Einsatzarmee.

Angesichts der fehlenden Ausrüstung bei den Berufs- und Zeitsoldaten fällt es schwer, sich vorzustellen, dass die Bundeswehr auf einen Zulauf an Reservisten gut vorbereitet wäre. 
Ja, man muss ganz klar sagen, was nicht gut läuft. Wir haben auch Reservisten direkt in den Einheiten, also keine Spiegelstellen, sondern zum Beispiel eine eigene Reserve-Kompanie in einem Bataillon. Die sind am nächsten dran an der aktiven Truppe, die würden im Bündnisfall wahrscheinlich sogar mit an die Nato-Ostflanke gehen. Trotzdem haben die keine eigene Ausrüstung. Die müssen sich das alles zusammensuchen und fast betteln, ob sie Waffen, Fahrzeuge und Munition zum Üben bekommen. 

Klingt nicht besonders motivierend.
Zur Reserve kommen die Leute ja freiwillig. Und wenn man so etwas immer wieder erlebt, schaut man sich vielleicht mal anderswo um und sieht: Beim THW haben sie alle Fahrzeuge in der Garage, die sie brauchen. Und bei der Freiwilligen Feuerwehr gibt es echte Löschübungen. Dann wechseln einige lieber dorthin.

Was müsste sich ändern, damit das nicht passiert?
Wir fordern ein Prozent des Sondervermögens on top für die Reserve. Es kann nicht sein, dass Reservisten immer die letzten sind, die das neue Funkgerät und die warme Winterausstattung oder Munition zum Üben bekommen oder für sie gar nichts mehr übrig ist. Im Fall der Fälle wären wir genauso gefordert. Und es wäre auch kontraproduktiv im Sinne der Abschreckung. 

Warum?
Man könnte zum Beispiel für 100.000 Reservisten 10.000 G36-Gewehre anschaffen und sagen: Dann üben Reserveeinheiten immer reihum und bedienen sich aus diesem Pool. So könnte man es ja mit der ganzen Ausrüstung überlegen. Aber ein Aggressor sieht das ja auch, und sagt sich: Na gut, dann kommen die 90.000 wohl ohne Gewähr und Fahrzeuge in den Krieg, um ihr Land zu verteidigen. Das ist doch keine Abschreckung! Ich muss für alle Soldatinnen und Soldaten der Reserve, die eingesetzt werden sollen, auch die entsprechende Ausrüstung anschaffen.

Patrick Sensburg, 52, saß von 2009 bis 2021 für die CDU im Bundestag. Der Oberst der Reserve ist seit November 2019 Präsident des Verbands der Reservisten der Deutschen Bundeswehr.

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