Der Begriff, der sich aufdrängt, ist historisch belegt. Frankreich wurde nach der Revolution von 1789 von einem Wohlfahrtsausschuss regiert. Er wurde 1793 als Exekutivorgan des Parlaments geschaffen, herrschte anfangs über die Minister und wurde im Handumdrehen zur zentralen Schaltstelle der Macht. Berühmte Männer gehörten ihm an, Helden des Umsturzes und der neuen Zeit: Danton, Saint-Just - und Robespierre. Der pervertierte den Ausschuss allerdings zu einem Werkzeug jakobinischer Schreckensherrschaft. Politik wurde nicht mit dem Argument gemacht, sondern mit dem Schafott.
Auch die Große Koalition in Berlin wird von einem Wohlfahrtsausschuss geführt. Auch er thront über den Ministern und dem Parlament. Auch er ist die zentrale Schaltstelle der Macht. Auch ihm gehören die É na ja É Helden der neuen Zeit an. Seine Macht aber exekutiert er mit völlig anderen Mitteln. So sanft und verdeckt, dass seine Bedeutung, sein Stil, ja selbst seine Existenz dem Publikum weithin unbekannt sind. Bei seinem historischen Vorläufer war der Titel Wohlfahrtsausschuss eine Verhöhnung der furchtbaren Wirkung, er aber verdient ihn wirklich - jedenfalls bezogen auf die Koalition.
Nach fünf Monaten dieses paradoxen Bündnisses, geboren im Schrecken einer traumatischen Wahl, lassen sich erste Beobachtungen des Exekutivorgans festhalten, das in keiner Verfassung steht, das sich eifrig auch als Gesetzgebungsorgan betätigt und das sich, seine Macht verharmlosend, lieber Koalitionsausschuss nennt. Es ist ein Siebener-, in der politischen Wirklichkeit aber eher ein Fünfer-, wenn nicht gar aktuell bloß ein Viererausschuss. Angela Merkel führt ihn mit Franz Müntefering, de facto längst wieder SPD-Vorsitzender, daneben freundeln Volker Kauder und Peter Struck, die Fraktionschefs. Auf die vier kommt's wirklich an.
Von draußen rein schwächelt Matthias Platzeck, de jure SPD-Vorsitzender - suchend, (noch) nicht mächtig, doch nicht zu unterschätzen. Dann sind's fünf. Edmund Stoiber und Peter Ramsauer, die Platzhalter der CSU, gehören zwar formal auch dazu, aber sie wiegen leicht, seit sich Stoiber selbst auf Diät gesetzt hat. In Praxis ist die Koalition eine aus CDU und SPD, die CSU stört nicht weiter. Und das ist gut so.
In rot-grünen Zeiten gab es den Koalitionsausschuss auch, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn Wohlfahrtsausschuss zu nennen, denn er war gänzlich ohne Bedeutung, diente nur gruppendynamischem Tamtam. Denn Gerhard Schröder herrschte lieber allein und lautstark und zog auch seinen Sozius Joschka Fischer nur gelegentlich zu Rate.
Gemessen daran ist Schwarz-Rot eine politische Kulturrevolution, ein Umsturz im Stil. Der schrille Schrei der Hysterie, rot-grünes Dauergeräusch, ist einem familiären Wohnzimmerton gewichen - leise, wohl temperiert, gänzlich unaufgeregt. In der Öffentlichkeit wie im Parlament. Sogar bei Konflikten. Früher waren die Matadore draußen in den Medien, unablässig, jetzt bleiben die Medien draußen. Und haben ein Problem damit. Peer Steinbrück etwa will erst seine Unternehmen-steuerreform fertig haben, bevor er Interviews dazu gibt. Das war einmal exakt umgekehrt.
Hinter den Kulissen der Koalition wird größer gedacht als auf der Bühne
Wer auch nur Anstalten macht, die Stille zu brechen, Andrea Nahles und Hubertus Heil von der SPD zum Beispiel, aus dem wird, wie es einer im Wohlfahrtsausschuss formulierte, "Carpaccio gemacht". Angela Merkel, so gelassen, ausgleichend und konzentriert wie nie - weil von den Männern der Union nicht mehr gemobt -, regiert mit "low profile", lenkt die Scheinwerfer nicht auf sich, sondern lässt auch andere glänzen. Müntefering, Kauder und Struck zum Beispiel. Nun sogar Ulla Schmidt und andere bei der Gesundheitsreform, denn es ist an der Zeit, der Führung von oben Integration von unten folgen zu lassen. Damit der Druck in Parteien und Fraktionen nicht übermächtig wird. Ein taktisches Kunststück.
Wer das Langeweile nennt, Mutlosigkeit, Politik auf kleinstem Nenner, könnte sich täuschen. Denn nun wird auch der zweite bemerkenswerte Unterschied zu Rot-Grün erkennbar: Es wird nichts öffentlich versprochen, was vielleicht nicht zu halten ist. Hinter den Kulissen der Koalition, im Wohlfahrtsausschuss, wird größer gedacht als auf der Bühne geredet. Das Konzept der Gesundheitsreform, von Volker Kauder nun im stern offenbart, könnte belegen, was Franz Müntefering unlängst geschrieben hat, als er Streit um den Kündigungsschutz erstickte: "Wir werden konstruktive Pfadfinder sein. Kreativ und mutig und sozial." Übrigens: Müntefering schrieb im "Handelsblatt", nicht in "Bild", auch das war neuer Stil. Wie der Satz: "Diese Koalition ist keine ideologische Veranstaltung, sondern ein breites Bündnis."
Funktioniert der Wohlfahrtsausschuss so, findet er große Lösungen von Bestand, hat er sich den Namen verdient. Dann nicht mehr nur für die Koalition, sondern fürs Land.