Zwischenruf Großmacht der Traktorsitze

Im Nahen Osten zeigt der Westen einen kollektiven Schwächeanfall. Auch Europa, das die wankende Weltmacht USA zu ersetzen hätte, bietet ein Bild des Jammers. Aus stern Nr. 35/2006

Es ist eine Kaskade der Schwäche. Von ganz oben bis ganz unten. Von den ganz großen bis zu den ganz kleinen Mächten. Von A wie Amerika bis W wie Westerwelle. Und die Schwäche, das Versagen, die Feigheit der einen ist die Stärke, die Ermutigung, die Hybris der anderen. Die anderen, das sind die Provokateure und Brandstifter der Weltpolitik, islamistische Terroristen, aber nicht nur die, denn über das Stadium terroristischer Outcasts sind sie längst hinaus. Iran, Syrien, die Hisbollah und der Libanon offenbaren, wie Außenpolitik durch bewaffnete Handlanger "verlängert" wird und in staatliche Strukturen eines anderen Landes hineinwuchert. Diesen aggressiven Komplex Terrorismus zu nennen, wird der komplizierten und noch gefährlicheren Wirklichkeit längst nicht mehr gerecht.

Der Nahe Osten ist der Schauplatz, auf dem die einen und die anderen aufeinander treffen, auf dem die Schwäche der einen zur Stärke der anderen wird. Auf dem sich entscheidet, welchen Mut, welche Vernunft, welche Gemeinsamkeit die einen zu mobilisieren imstande sind. Um das Blatt zu wenden. Um sich selbst zu schützen vor Terror. Um den aggressiven Komplex der anderen zu sprengen - durch militärische Stärke und politische Klugheit.

Die Kaskade der Schwäche beginnt bei den USA, die dabei sind, ihre Rolle als ordnende Weltmacht zu verlieren. George W. Bush hat sie im Irak verspielt. Im Nahen Osten ist Amerika schon nicht mehr Hegemonialmacht, außerstande und offenkundig auch nicht mehr willens, zwischen Arabern und Israelis verlässlich, zumindest befriedend zu vermitteln. Israel, nicht mehr nur territorial, sondern in seiner Existenz bedroht und von einer neuen, dilettierenden Politiker-Generation regiert, ist ein Ausbund an Schwäche: Das Land kann militärisch nur noch verwüsten, aber nicht mehr siegen, seine legendären Geheimdienste versagen geradezu atemberaubend, seine Außenpolitik findet keine starken Partner mehr. Die Vereinten Nationen, von den Amerikanern beim Irak-Konflikt absichtsvoll geschwächt, sind zur Bettelagentur für Truppenkontingente zur Stabilisierung des Nahen Osten herabgesunken. Die Resolution, die den Libanon befrieden und Israel besänftigen soll, nährt die gefährliche Illusion, die Hisbollah könne von der mit ihr verbündeten libanesischen Armee entwaffnet werden - einer Armee, die von einem Kabinett befehligt wird, dem die Hisbollah selbst angehört.

Die Europäische Union zeigt sich so schwach wie stets, wenn es auf Geschlossenheit und Stärke ankäme: Sie zerfällt in nationale Ängste und Egoismen. Kein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs, bei der Normierung von Traktorsitzen zuverlässig am Platze, hat bisher den Versuch unternommen, Europas Interessen im Nahen Osten zu bestimmen, ein integriertes Truppenkontingent unter gemeinsamem Kommando aufzustellen und eine politische Initiative zu verabreden, die das Machtvakuum ausfüllen könnte, das die USA hinterlassen haben. Die europäischen Zentralmächte Frankreich und Deutschland lavieren, bar entschlossener Führung, zwischen Ehrgeiz und Angst - Angst vor einer Amerika- wie Israel-kritischen Öffentlichkeit, Angst vor der Entsendung von Bodentruppen. Die Briten sind gleich ganz abgetaucht, das Desaster im Irak, die fatale Gefolgschaft gegenüber Amerika, der Terror im eigenen Land haben sie lahm und stumm gemacht. Im Libanon sind sie nicht mehr zu gebrauchen. Europas konfuse Führer telefonieren kreuz und quer, aber sie meiden den Punkt, an dem es verbindlich und konkret werden müsste. Jammervolles Europa. Nepal und Brunei waren schneller und mutiger.

Europas konfuse Führer telefonieren kreuz und quer, aber sie meiden den Punkt, an dem es konkret würde. Nepal und Brunei waren mutiger

Deutschland wiederum verschanzt sich hinter historischen Vorbehalten, nur scheinbar überzeugenden Schreckensvisionen, in denen deutsche auf israelische Soldaten feuern müssten. Und ganz unten in der Kaskade der Schwäche spreizt sich Guido Westerwelle mit der populistischen Beute-Formel, deutsche Soldaten hätten im Nahen Osten nichts zu suchen. Der Mann, der deutscher Außenminister werden wollte und wohl noch immer will, zeigt sich politikunfähig, jedenfalls unfähig zu vorausschauender europäischer Politik.

Denn es geht nicht um deutsche oder französische Soldaten mit nationalem Auftrag. Es ginge um deutsche und französische Truppen mit europäischer Mission. Um Europa als politische Macht, die militärisch defensiv und diplomatisch offensiv agiert. Die Kaskade der Schwäche wird von den anderen genau beobachtet. Wer nicht entschlossen und glaubwürdig zwischen die Fronten geht, der ermutigt neue Gewalt - Krieg wie Terror. Man werde "mit Leidenschaft" für die Werte des Westens eintreten, sagt Angela Merkel. Sie übernimmt 2007 für ein halbes Jahr die EU-Präsidentschaft, im Juni tagt in Heiligendamm der G-8-Gipfel. Da hätte die Kanzlerin Gelegenheit, ihre Leidenschaft zu beweisen. Für Europa - durch eine Friedensinitiative im Nahen Osten.

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Hans-Ulrich Jörges