Zwischenruf Kafka im Kanzleramt

Von der Radikalreformerin ist nichts übrig geblieben, Angela Merkel hat ihre neue Rolle gefunden: als Retterin des Weltklimas. Die Verwandlung folgt einem berühmten literarischen Vorbild.

Die Kanzlerin ist kein Käfer. Und dennoch gibt es eine Analogie zwischen der angeblich mächtigsten Frau der Welt und dem zweifellos berühmtesten Insekt der Weltliteratur: Es ist der Augenblick, in dem sich beide in ihrer Gestalt entdeckten respektive wiederfanden. Franz Kafka hat beschrieben, wie der Handelsvertreter Gregor Samsa "eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte" und als Käfer im Bett lag: "Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. "Was ist mit mir geschehen?", dachte er. Es war kein Traum." Kafkas Erzählung, 1915 erschienen, trägt den magischen Titel: "Die Verwandlung". Auch Angela Merkel hat eine solche Verwandlung erlebt. 90 Jahre später. Als sie entsetzt aus ihren Träumen erwachte und dachte: "Was ist mit mir geschehen?" Es war der 18. September 2005, kurz nach 18 Uhr. Im fünften Stock des Konrad- Adenauer-Hauses flimmerten die ersten Hochrechnungen der Wahl über den Fernsehschirm. Die Fotografin Laurence Chaperon hat den Moment der Erstarrung für den stern festgehalten. Mit gefalteten Händen steht Angela Merkel vor einem Konferenztisch, starrt auf den Fernseher. Um den Tisch gruppieren sich Vertraute, alle verstummt. Wolfgang Schäuble vergräbt das Gesicht in der rechten Hand. Es war ein böses Erwachen. Zerstoben die Hoffnung auf einen strahlenden Sieg. Angela Merkel heute zu verstehen ist unmöglich, ohne diesen Moment des Erwachens als Angela Samsa zu erinnern. Er erklärt alles. Er ist der Schlüssel zu ihrer Seele. Er markiert die Verwandlung der National- zur Globalreformerin. Nicht mehr Deutschland ist ihr Sanierungsfall, sondern die ganze Welt. Nicht mehr das eigene Land gilt es zu retten, sondern den Globus. Und: sich selbst.

Denn die Physikerin hat gelernt aus dem Schock dieses Augenblicks. Dass die Umgestaltung einer Gesellschaft nach den Gesetzen der Vernunft, mit der kühlen Präzision eines wissenschaftlichen Experiments ein enormes Risiko birgt: das Risiko des Scheiterns an den Ängsten der Menschen, die sich reduziert fühlen zu physikalischen Kräften in einer fremden Versuchsanordnung. Und dass die Menschen ihr, der Versuchsleiterin, nicht vertraut haben. Weil sie eine Frau ist, weil sie aus dem Osten kommt, weil sie menschlich und emotional zu unklar geblieben war, unheimlich in Wahrheit. Sie hat Konsequenzen daraus gezogen, radikal Abschied genommen von ihren Ambitionen als Radikalreformerin - und das mit vorgeblichen Zwängen der Großen Koalition bemäntelt. Kein Wort mehr von der Kopfpauschale in der Krankenversicherung, von Stufentarif oder gar Flat-Tax bei den Steuern, von der Entfesselung des Arbeitsmarkts. Nicht einmal mehr das Wort ist geblieben: Reform. Denn aufs Volk hat das die Wirkung einer entsicherten Pistole im Nacken.

Die Physikerin hat gelernt aus dem Schock der Wahlnacht. Nicht einmal das Wort ist geblieben: Reform. Denn aufs Volk hat das die Wirkung einer entsicherten Pistole

Reformen sind seither Sache der Spd . Der Begriff wie seine Umsetzung. Und die Haftung dafür. Geschenkt: Gesundheitsreform, Rentenreform, Unternehmensteuerreform. Gestohlen dagegen die einzig populäre Reform: die der Kinderbetreuung. Erfunden von der SPD, enteignet von der CDU. Im Kern gibt es heute eine scharfe Arbeitsteilung in der Großen Koalition: Die SPD regiert im Innern, die Union nach außen. Der Unionsteil des Kabinetts ist, mit der erwähnten Ausnahme, eine einzige Katastrophe. Die Kanzlerin aber überlagert alles. Tritt im Innern nur noch als geduldige, mitunter milde genervte Gouvernante streitender Kinder in Erscheinung. Führung, Richtlinienkompetenz? Nicht hier, nicht bei solchem Risiko. Im Äußeren entfalten sich Gestaltungswille, Fantasie und Glanz der Kanzlerin. Das verspricht Erfolg ohne Risiko - und schafft Vertrauen in die ehedem unbekannte Frau aus dem Osten. Das macht die Verwandlung politisch produktiv. Das macht die fliehende Frau sogar sympathisch. Hier kann sie lachen, scherzen, genießen.

Sie hat ihre Rolle und Mission gefunden: die Erlösung der Welt. Hauptthema, immer und überall: Rettung des Weltklimas. Nebenthemen, nach Gelegenheit: Rettung des Friedens, Rettung der Menschenrechte. Denken und Instrumentarium sind unverändert wissenschaftlich: Die Kopfpauschale in der Krankenversicherung wurde gerade abgelöst von der Kopfpauschale bei den globalen Kohlendioxid-Emissionen. Daheim hat das überaus angenehme Nebenwirkungen: Es dient der Immunisierung gegen einen möglichen Friedenswahlkampf der SPD - und lässt sogar linke Grüne die Hüte lüften vor Begeisterung. Bloß: Mit Außenpolitik Wahlen zu gewinnen ist nicht einfach. Und: Die eigenen Anhänger suchen nach Erfolgen im Innern. Gregor Samsa wurde übrigens von seiner Familie zu Tode gebracht. Aber das ist Literatur.

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Hans-Ulrich Jörges