Zehn Jahre Krieg! Konkreter: Feldzüge bis zum Jahre 2011 habe die Welt nun zu gewärtigen, verkündeten nach dem Donnerhall des 11. September die Propagandisten der neuen amerikanischen Sicherheitsdoktrin. Die Welt hat nicht so genau hingehört, sie hielt die klirrende Rhetorik für eine Überreaktion der schwer verwundeten Hypermacht. Man glaubte, mit dem Afghanistankrieg sei es getan - und die größte politische Koalition der Geschichte stand hinter den USA. Im Jahre zwei nach 9/11 folgt der Irak - und die denkbar kleinste Koalition wird von den Amerikanern in die Schlacht gegen das Völkerrecht und einen mediokren Diktator geführt. Nun dämmert allen: Sie meinen es ernst, sie wollen mehr. Iran, Syrien, Saudi-Arabien, Libanon, Nordkorea.
Es ist der Ruin der Weltordnung. In der Hitze des Irakkrieges zerfließt all das, was im Eis des Kalten Krieges gefroren war - und Berechenbarkeit, Stabilität, Frieden verhieß. Als atemlose Augenzeugen einer fernen Schlacht erahnen wir den Beginn einer Ära, die von Unsicherheit, Gewalt und Gefahr getränkt ist. Auch für uns selbst im doch scheinbar so unaufhaltsam auf Einigung gepolten Europa. Nichts ist mehr verlässlich, alles wieder denkbar.
Die Vereinten Nationen entmündigt
Denn wir erleben, wehrlos und entsetzt, die Lähmung oder gar den Kollaps jener internationalen Organisationen und Bündnisse, die uns seit einem halben Jahrhundert das Ende der kriegerischen Geschichte versprechen: UN und Nato an erster Stelle. Entweder sie unterwerfen sich den USA - oder das Imperium stellt sie kalt. Die Vereinten Nationen entmündigt zur humanitären Aufräumtruppe nach den Kriegen des neuen Rom, die Nato ausgetrocknet zur raschelnden Hülle vergangener Größe. Die USA werden nicht zurückkehren in die unkalkulierbaren Mühlen frisch erwachter diplomatischer Demokratie. Die "Koalition der Willigen", das Schlachtenbündnis nach aktuellem Anlass, ist das Modell der Zukunft. Die Söldner-Psychologie von Strafaktionen, Raub- und Eroberungsfeldzügen ersetzt die Bündnislogik feierlicher Deklarationen. Der Kosovokrieg - ohne UN-Mandat! - war der erste Tabubruch. Europa hat ihn legitimiert, die Nato ausgefochten.
Rhetorik und Denken erinnern an das Europa vor dem Ersten Weltkrieg
Nun ist die politische Union des Kontinents zur puren Illusion verkommen. Unerträglich die Sonntagsreden, die noch immer vom Gegenteil schwadronieren, den Irak-krieg gar zur Geburtsstunde neuen Einigungswillens umzudichten versuchen. Der ferne Wüstensturm hat das Tarnnetz der Lügen, Beschwichtigungen und Tagträumereien über dem heillos zerklüfteten Europa hinweggefegt. Die Wahrheit ist: Europa kennt keine Europäer - wie die Weimarer Republik keine Demokraten kannte.

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Die politische Klasse denkt national
Die Vorkriegsdebatte hat brutal offenbart: Die politische Klasse denkt rein national. Ausnahmslos, wie auch die Europa-vergessenen Vasallengelübde der CDU gegenüber Washington belegen. Keine der maßgebenden Regierungen - ob links oder rechts - dachte ernsthaft daran, die eigene Position zugunsten einer europäischen Mehrheitsmeinung zu revidieren. Deutschland und England waren die Pole jenes ruinösen Egoismus: Die Briten verpflichteten sich im Alleingang zum Krieg, die Deutschen schworen ihm im Alleingang ab. Die Konstrukteure der Achse London-Madrid-Washington wie die der Achse Paris-Berlin-Moskau ließen den europäischen Zug kalten Blutes entgleisen.
Denken und Rhetorik erinnern fatal an das national trunkene Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Ein Schreckgespenst? Leider nicht. Die widerwärtige Kampagne der britischen Presse gegen Frankreichs Präsidenten - Jacques Chirac wurde in Balkenlettern als Hure geschmäht - unterscheidet sich in Radikalität und Verachtung nur graduell von Kriegshetze. Und EU-Kandidat Türkei zerrt - kein Gedanke an Brüssel! - gierig einen Fetzen von der Irak-Beute.
Die EU als mächtiges Gegengewicht zu den USA? Lächerlich. Der Euro als Zwangskorsett der politischen Einigung? Keinen der Währungsbündler hat das beim ersten Ernstfall beeindruckt. Immerhin ein Segen, dass wir das Gemeinschaftsgeld schon haben. Es käme nun nicht mehr, so bald jedenfalls nicht. Der Kontinent ist in drei Trümmerteile zerfallen: den deutsch-französischen, den britisch-spanisch-italienischen und den osteuropäischen, den es zur Vormacht USA zieht wie Eisenspäne zum Magneten. Europa - nicht mehr als eine Freihandelszone. Mit düsterer Perspektive: Politisch wuchern unter ihrem Dach mehrere Europas. Vertrauen verdient keines.