Zwischenruf Rache, kalt genossen

Er hat seinen Abgang so grandios wie unangreifbar inszeniert. Doch mit dem gewählten Zeitpunkt hat Franz Müntefering den Triumph Kurt Becks über die Verlängerung des Arbeitslosengeldes zerstört - und der SPD schwer geschadet.

Standing Ovations gab es, und viele hatten Tränen der Rührung in den Augen, als Franz Müntefering am Dienstag, dem 13., vor der SPD-Bundestagsfraktion seinen Rücktritt begründete. Selten hat eine Partei derart naiv ihrem eigenen Verhängnis applaudiert. 222 Abgeordnete stellt die SPD im Bundestag. Käme sie mit dem Ergebnis aus der Wahl 2009 heraus, auf das "Münte" seine Partei nun wieder demoskopisch zurückgeworfen hat - 24 Prozent, zwei Punkte weniger als vor seinem Abgang -, dann würden rund 80 dieser 222 Vertreter des sozialdemokratischen Volkes ihr Mandat verlieren. Mit ihrem Jubel für den heiligen Franz beklatschten diese 80 auch dessen verdecktes Spiel mit ihrer politischen Existenz. Nur wenige erkannten das Abgründige. Denn mindestens so bewegend wie der Rücktritt selbst war der Zeitpunkt seiner Verkündung: ausgerechnet am Tag nach der nächtlichen Sitzung des Koalitionsausschusses, in der die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere beschlossen wurde (und der Post-Mindestlohn am Widerstand der Kanzlerin scheiterte). Die Operation ALG war Kurt Becks Triumph, die strategische Wende, die der Mainzer seiner Partei gegen Münteferings Widerstand verordnet, die den Hamburger SPD-Parteitag bestimmt und Union wie Linkspartei über Wochen unter Druck gesetzt hatte. Zum ersten Mal hatte sich der SPD-Vorsitzende direkt in der Berliner Koalition durchgesetzt. Die CDU musste ihre Widerstandslinie räumen, die Reform der Reform komme nur kostenneutral infrage.

Doch Beck hatte keine Chance, seinen Erfolg, die Neuausrichtung der SPD, ins Bewusstsein des Publikums zu rammen. Müntes Rücktritt zertrümmerte Becks Auftritt, trieb ihn in die Defensive, ließ ihn hölzern unbeholfen erscheinen - und fegte das Arbeitslosengeld von der Agenda, als ginge es um eine Petitesse des Regierungsgeschäfts. Am Abend des unseligen 13. war es dem "Heute-Journal" des ZDF nicht mal mehr eine Nachricht wert. Und am nächsten Morgen war es nicht Aufmacher auf den Titelseiten, sondern verdorrte als Einspalter auf Seite 3 von "Bild", im Wirtschaftsteil der "FAZ" und auf Seite 5 der "Süddeutschen". Müntes letzte Tat. Statt als "Big Bang" durchs Land zu hallen, verklang der Symbolbeschluss für die linkspopuläre Wiedererkennbarkeit der SPD mit einem Winseln. Statt des in Erfüllung gegangenen Projekts Kurt Becks beherrschte das unerfüllte Vermächtnis Franz Münteferings die Debatte: der Mindestlohn. Der innerparteilich geschlagene Vizekanzler hat seine Rache am Vorsitzenden kalt genossen - à la minute. Schon am Montag der vorangegangenen Woche war seine Frau operiert worden, zum fünften Mal. Wäre er sofort abgetreten, hätte er Beck in der Koalition das Feld überlassen und sich dem Verdacht ausgesetzt, er mache "den Lafontaine". Wäre er erst eine Woche später aus dem Amt geschieden, wogegen nichts sprach, hätte der SPD-Chef seinen Durchbruch genießen können, Müntefering aber wäre nicht mit der Gloriole des letzten Aufrechten abgetreten, sondern als Gescheiterter.

Der Rücktritt fegte das Arbeitslosengeld von der Agenda. Statt als "Big Bang" durchs Land zu hallen, verklang der symbolhafte Beschluss mit einem Winseln

So ging er auf dem Zenit seiner Wirkungsmöglichkeiten, mit einer unangreifbaren, weil menschlich beeindruckenden Begründung - und mit einem grandiosen Auftritt, der die kritischen Instinkte der Medien einlullte und es nebenbei auch noch erlaubte, die Kanzlerin als eiskalte Lohndrückerin zuzurichten. Abgetreten ist nicht nur ein - verglichen mit den politisch Hinterbliebenen - Großer, sondern auch ein großer Taktiker. Und ein großer Einzelgänger, der auf die Interessen seiner Partei, die sich am Ende gegen ihn gewandt hatte, keine Rücksicht mehr nahm. Der sogar noch seine Nachfolger mitbestimmen konnte: Wäre er später abgetreten, hätte Beck womöglich Andrea Nahles zur Arbeitsministerin gemacht, die Führerin der Parteilinken, Einzige aus seiner Stellvertreterriege, die kein Regierungsamt hat - und für Müntes Rücktritt als SPD-Chef verantwortlich war. Vergessen ist nun auch, dass das Umfrage- Elend der SPD in den ersten Jahren der Koalition mehr Münteferings Anschmiegsamkeit an die Kanzlerin geschuldet war als dem dafür mit Hingabe geprügelten Beck. Der hat nun wieder zu haften, für den beträchtlichen Schaden, den Münteferings Abgang zur Unzeit hinterlassen hat. Nach der Verlängerung des Arbeitslosengeldes gibt es nur noch ein einziges Stück, mit dem der Mainzer bei den 22 Wahlen der nächsten beiden Jahre persönlich punkten könnte: das Jahrhundertprojekt der Kapitalbeteiligung für Arbeitnehmer. Frank-Walter Steinmeier, der neue Vizekanzler, muss nun leisten, was sein Vorgänger versäumt hat: der SPD kantiges Profil geben und die Koalition halten. Müntefering aber hat nicht nur Becks Befreiungsschlag vereitelt - er hat damit auch Merkels Kanzlerinnenbonus gestärkt. Sie liegt nun schier uneinholbare 41 Punkte vorn.

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Hans-Ulrich Jörges