Zwischenruf Über den Anden

Angela Merkel ist am Ende ihres schwachen Jahres so stark wie nie - ihre Rivalen haben sich selbst zerlegt. Im neuen Jahr kann und muss sie Führung beweisen. Aus stern Nr. 52/2006

ngela Merkel will fliegen lernen im neuen Jahr. Sich aufschwingen aus den Niederungen ihres Ansehens und Höhe gewinnen. Gipfel bestaunen und sich selbst hoch droben bestaunen lassen. Im ersten Halbjahr bläst der Kanzlerin die EU-Präsidentschaft warmen Wind unter die Flügel - sie hat den Ehrgeiz, die desolate Union wieder auf Kurs zu bringen, hin zu einer gemeinsamen Verfassung und hin zu einer Friedensinitiative im Nahen Osten. Im Juni folgt der mit Bombast inszenierte Weltwirtschaftsgipfel in Heiligendamm, an der Ostsee. Das Startgewicht indes ist schwer, es drückt der innenpolitische Ballast: Gesundheit, Unternehmensteuern, Pflegereform, Kombi-Lohn, Mindestlohn, Investivlohn. Reparaturarbeiten das meiste, im Inneren wie im Äußeren. Über allem aber schwebt Merkels Leitmotiv: der Wiederaufbau ihres im ersten Jahr der Großen Koalition zertrümmerten Führungsanspruchs. Die Rückgewinnung von Vertrauen. Die Beseitigung zuweilen grenzenloser Enttäuschung der eigenen Anhängerschaft.

Dafür muss zuerst mit einem Missverständnis aufgeräumt werden: dem Basta-Missverständnis. Als wäre Führung gleichbedeutend mit jener speziellen Form autokratisch-erpresserischer Herrschaft, die Gerhard Schröder als Basta-Politik ins Bewusstsein der Deutschen gerammt hatte. Eine Zeit lang nützte das Basta-Missverständnis beiden, Schröder wie Merkel. Der eine sonnte sich in der Behauptung, die politischen Geschäfte ließen sich gar nicht anders betreiben, als er es getan hatte, und rief seiner Nachfolgerin feixend hinterher: "Es fehlt einfach Führung." Die andere entschuldigte ihr Führungsversagen damit, dass sie nun mal einen anderen, einen gesprächsoffenen, moderierenden Stil pflege. Führung aber hat mit Basta nichts zu tun. Oder sagen wir: wenig. Basta-Politik, das Ersticken von Diskussion durch Macht, kann nicht mehr sein als eine Spielart von Führung, und zwar die schädlichste, unfruchtbarste. Kluge Führung heißt: sagen und überzeugend begründen, wofür man steht - und das dann energisch, mitreißend, unbeirrbar verfolgen. Aber immer im Gespräch. Merkel weiß das, und der Imageschaden quält sie.

Sie hatte ja selbst ein ganz anderes Bild von ihrer Führungskraft geprägt. Wie sie Horst Köhler als Bundespräsidenten durchsetzte, gegen Edmund Stoiber und viele Mächtige in der CDU, die Wolfgang Schäuble wollten, das war ein Meisterstück in Machtausübung und taktischer Raffinesse. "Ein Bubenstück aus Mädchenhand", urteilte Richard von Weizsäcker. Bei der Gesundheitsreform, als sie am Anfang nicht sagte, was sie wollte, dann einknickte vor der Fronde ihrer Rivalen in der Union, die Steuererhöhungen zur Senkung der Kassenbeiträge partout nicht wollten, und am Ende nicht einmal schlüssig begründen konnte, was sie vereinbart hatte, nach diesem gründlich missratenen Werkstück also wucherte der Zweifel, ob man sich nicht fundamental getäuscht habe in der Führungsfähigkeit dieser Frau. Laurenz Meyer und Horst Seehofer hatten ihr ein ehrgeiziges Reformkonzept aufgeschrieben: Die Arbeitnehmer sollten die Versicherung für Zähne und Unfälle selbst tragen, die Arbeitgeber alleine fürs Krankengeld aufkommen, und die Kinderversicherung bei den Kassen sollte aus Steuern bezahlt werden. Ziel: nur noch neun Prozent Krankenkassenbeitrag, ein dramatischer Fortschritt. Sie hat es nur verstümmelt vorgeschlagen - und versiebt.

Köhler füllt die Lücke, die Merkel aufgerissen hat. Daraus könnte leicht ein Kampf um Führung werden, der das Verfassungssystem auf die Probe stellt

Das lautstarke Rumoren um Horst Köhler, seine Interventionen gegen verfassungsrechtlich halbseidene Gesetze der Koalition, seine Ungeduld mit der Regierung, sein Drängen auf entschlossenere Reformen, sein Grübeln darüber, ob er im neuen Jahr noch energischer präsidiale Führung übernehmen soll, all das ist auch ein Reflex auf Merkels eklatante Führungsschwäche. Köhler füllt die Lücke, die sie aufgerissen hat. Daraus könnte leicht ein Kampf um Führung werden, der die ganze politische Klasse durcheinanderwirbelt und das Verfassungssystem auf eine ernste Probe stellt.

Merkels Position ist inzwischen gefestigt genug, dass es nicht so weit kommen muss - ja, gar nicht kommen darf. Denn der mythische Andenpakt ihrer Rivalen, jenes Bündnis, das einst Roland Koch, Christian Wulff und andere Jungspunde der CDU bei einem Südamerika-Trip geschlossen hatten, ist zerbrochen. Auf dem Dresdener CDU-Parteitag wurde Merkel so überraschend wie triumphal mit 93 Prozent als CDU-Chefin bestätigt, während sich die Diadochen gegenseitig niedermachten, alte Wahlbündnisse ihrer Landesverbände aufkündigten und als Stellvertreter demütigende Ergebnisse von klar unter 70 Prozent kassierten. Seither ist offenkundig: Auf einen Kandidaten zum Sturz Merkels können die sich nicht einigen, allenfalls noch auf negative Mehrheiten zur Blockade einzelner ihrer Projekte. Am Ende ihres Schwächejahres also ist Merkel so stark wie nie. Wenn sie will, kann sie fliegen - hoch droben, über den Anden.

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Hans-Ulrich Jörges