Die Beerdigung fand in aller Stille statt. Geräuschlos. Verschämt. Ohne Nachrufe oder Tränen. Die Leiche wurde totgeschwiegen. Und anonym verscharrt. Gestorben ist die Berliner Republik. Nicht erst in diesen Tagen. Plötzlich und unerwartet, wie es im Jargon der Trauer heißt, ist sie von uns gegangen. So plötzlich, dass die Frage drängt, ob sie je wirklich gelebt hat. Jetzt, rückblickend, bleibt festzustellen: Die Berliner Republik wurde schon in der Wiege dahingerafft.
Mit welch grandiosen Hoffnungen, mit welch düsteren Befürchtungen war sie geboren worden! Alles sollte, musste, würde anders werden im vereinten Deutschland mit der gen Osten verschobenen Achse. Beglückend oder beängstigend, je nach Standpunkt, großartig oder großmannssüchtig. Groß auf jeden Fall.
Die Euphorie wie der Alb starben
Gar nichts ist groß geworden. Die Euphorie wie der Alb starben, kaum hatten sie das Licht der Bonner Republik erblickt. 15 Jahre ist das her. Zeit für einen verspäteten, aber notwendigen Nachruf.
Das Ende der Ängste ist rasch beschrieben. Gottlob. Zu Trauer besteht wahrlich kein Anlass. Ein "Viertes Reich" werde nun seine garstige Fratze zeigen, waffenklirrend und machttrunken. In London bebte Maggie Thatchers Handtasche. Der Moloch Berlin werde alles an sich reißen, die Provinzen ausweiden, die Filets von Wirtschaft und Kultur verschlingen. In München und Düsseldorf zitterten die Platzhalter. Gespenster, Gespinste. Aus dem "Vierten Reich" wurde die "Friedensmacht" Gerhard Schröders, die ihre frisch gewonnene Souveränität im Irak-Streit bis zur Verweigerung gegenüber dem Imperium Americanum ausschöpfte. In der Außenpolitik, und nur da, winkte die Berliner Republik einmal keck aus der Wiege - nicht mit der Faust, mit der Peace-Geste. Die Hauptstadt indes ist bis auf die Knochen abgemagert. Kein Konzernchef, kein Kulturlenker denkt noch daran, ins Armenhaus der Nation zu ziehen. Berlin ist fertig. Und feiert die Pleite, zwanghaft fröhlich wie eine Trauergesellschaft nach der Beerdigung. Die Leiche wird versoffen.
Tränen verdienen die begrabenen Hoffnungen
Tränen verdienen indes die begrabenen Hoffnungen. Hoffnungen "auf nicht weniger als eine kulturelle Revolution der deutschen Politik", wie ich selbst im Wonnemonat Mai 1998 schrieb. Nur in Bonn, träumte der Illusionist, seien "die Jahre des Stillstands denkbar" gewesen. In Berlin betrete die Politik "einen anderen Stern", werde "brutal mit der sozialen Wirklichkeit des unselig vereinten Landes konfrontiert".
Der "Spiegel" träumte den gleichen Traum: "Neue Regierung, neue Politikergeneration, neue Hauptstadt, neue Währung, neues Jahrtausend", schwärmte er im Oktober 1998, beim Machtwechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder. Feierte "Aufbruchstimmung", eine neu prägende "Generation Berlin" und den "ersten Kanzler der Berliner Republik", der "schon vor Dienstantritt seinen Platz in der Geschichte sicher" habe. "Mit der Wahl haben der neue Kanzler und sein grüner Vize Joseph Fischer die Interpretationshoheit über die Zukunft gewonnen." Sie hatten. Aber sie haben sie verschenkt. Willy Brandts Motto "Wir wollen mehr Demokratie wagen" und Helmut Kohls Formel von der "geistig-moralischen Wende" folgte dröhnendes Schweigen, das bis heute anhält. Die Eltern verweigerten der jungen Berliner Republik Auftrag und Sinngebung. Daran verzweifeln sie nun selbst.

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Statt der Berliner wuchert eine Hinterzimmer-Republik
Revolution der Politik? Welcher Irrtum! Das Raumschiff Bonn ist in Berlin gelandet. Das ist alles. Auch die Schwulenbar beim Arbeits- , der Straßenstrich beim Bildungsministerium vermochten nicht, die Politik in die Realität zu zerren. Nie waren ihre Erstarrung, ihre Entfremdung vom Volk, der Verlust an Vertrauen größer als in diesen Zeiten. Nie zuvor auch war die handwerkliche Qualität von Politik, ja die Qualität der Politiker miserabler. Und ihre Entwurzelung bestürzender: Sachverstand und Erfahrung werden durch bauchgesteuerte Ad-hoc-Entscheidungen ersetzt, diskursive Meinungsbildung von unten nach oben durch Diktate von oben nach unten. Statt der Berliner wuchert eine Hinterzimmer-Republik. Der Osten hat darin noch weniger Stimme als in Bonn.
Der misslingenden Politik entspricht das Land, dem nichts mehr gelingen will: von der Maut bis zur Olympia-Bewerbung. Selbstquälerisch fruchtlos bespiegelt im Ballyhoo-Parlament der Talkshows. Die Intelligenz kapselt sich ein; Comedy-Clowns sind die irrwitzigen Leitfiguren des öffentlichen Gesprächs. Es darf geweint werden. Niemand braucht sich seiner Tränen zu schämen.