Eskalation im Nahen Osten Wie reagiert er?

Israel steht unter Druck. Die Lage in Nahost ist nach dem ersten direkten Großangriff des Iran angespannt. Wird Premier Netanjahu der Provokation standhalten?
Benjamin Netanjahu
Benjamin Netanjahu
© Miriam Alster / DPA

Tragt heute schöne Schlafanzüge, denn es wird ein Treffen mit den Nachbarn geben", schrieb vergangenen Samstagabend jemand in der Facebook-Gruppe "Secret Tel Aviv" in Anspielung auf bevorstehende Begegnungen bei Nacht in den Bunkern der Stadt. Andere User posteten derweil makabre Kochempfehlungen: "Drohne, 9 Stunden Flugzeit: genug Zeit für Tscholent-Eintopf. Ballistische Rakete, 12 Minuten Flugzeit: das reicht noch für ein Omelett-Sandwich."

Osnat Mordechai, 63, lag da schon längst im Bett ihres Hotelzimmers, nicht weit entfernt vom Strand in Tel Aviv. "Ich wusste, ich kann ohnehin nichts tun", so die Lehrerin in Rente tags darauf. "Also habe ich eine Schlaftablette genommen und mich gezwungen zu schlafen. Wir müssen wieder lernen, daran zu glauben, dass unsere Armee eine der stärksten der Welt ist. Uns bleibt gar keine andere Wahl."

Die Ereignisse dieser Samstagnacht dürften, das ist die gute Nachricht, dazu beigetragen haben, dass Israel sein Vertrauen in die eigene Stärke, die eigene Verteidigung ein Stück weit zurückgewinnt. In jene legendäre Selbstsicherheit als kleiner Staat in feindlicher Umgebung also, die von den Massakern und Geiselnahmen der Hamas am 7. Oktober 2023 so schwer erschüttert worden war.

Rund 350 Geschosse, darunter 170 Kamikazedrohnen, mehr als 30 Marschflugkörper und mindestens 120 ballistische Raketen: Das Arsenal, das die Revolutionsgarden der Islamischen Republik und mit dem Iran verbündete Milizen in der Region, allen voran die jemenitischen Huthis, nach Einbruch der Dunkelheit in mehreren Wellen auf Israel abfeuerten, hatte das Potenzial, massive Zerstörung anzurichten. Stunden später aber, als gegen 1.45 Uhr Kampfjets durch die Nacht über Tel Aviv donnerten, als Geschosse im Feuer der Raketenabwehr verglühten und dabei Lichtstreifen in den Himmel über der Jerusalemer Al-Aqsa-Moschee malten – da wirkte die Attacke nur noch wie ein böser Spuk. Und der war zu diesem Zeitpunkt auch schon fast wieder vorbei.

Raketenabwehrsystem am Himmel
Beunruhigende Himmelsbeleuchtung: Ein Raketenabwehrsystem operiert aus Aschkelon
© REUTERS/Amir Cohen

99 Prozent der anfliegenden Geschosse seien abgefangen worden, erklärte Israels Militär am nächsten Morgen, die meisten noch über dem Territorium benachbarter arabischer Staaten, ehe sie Israels Luftraum erreichen konnten. Das "Wall Street Journal" erfuhr aus US-Sicherheitskreisen, jede zweite ballistische Rakete des Iran habe beim Start nicht funktioniert oder sei unterwegs von allein vom Himmel gefallen. Ein Beduinen-Mädchen aus dem Jordantal, schwer verletzt vom herabstürzenden Teil einer abgefangenen Rakete, dazu kleinere Schäden auf einem Militärflughafen in der südlichen Negev-Wüste: Das war die äußerst glimpfliche Schadensbilanz einer Nacht, die bedrohlich begonnen hatte.

Die Lage ist angespannt 

Die Aggressoren zeigten sich trotzdem demonstrativ zufrieden. "Die Operation ist erfolgreich beendet. Sie hat all ihre Ziele erreicht", erklärte der Generalstabschef des Iran, Mohammad Bagheri, im Staatsfernsehen. Schon direkt nach Beginn des Angriffs hatte die Mission der Islamischen Republik bei den Vereinten Nationen in New York einen Aufruf zur Deeskalation abgesetzt: Der Iran habe in Reaktion auf den israelischen Angriff auf sein Konsulat in Damaskus am Montag vor einer Woche von seinem legitimen Selbstverteidigungsrecht gemäß Artikel 51 der UN-Charta Gebrauch gemacht. Nun könne "die Sache als beendet gelten". Jedenfalls, wenn "das israelische Regime" keinen "neuen Fehler" begehe und die USA sich heraushielten.

Doch die markigen Worte kaschieren nur notdürftig, wie angespannt die Lage im Nahen Osten ist nach diesem ersten direkten Großangriff des Iran auf Israel. 

Erschienen in stern 17/2024