FÜNFZIG JAHRE BUNDESREPUBLIK / SIEBEN KANZLER IN 50 JAHREN - die Nachkriegsdemokratie begann mit der Wahl Konrad Adenauers im September 1949. Die Bundesrepublik ist nicht schlecht gefahren mit den Männern, die den mäßig bezahlten Knochenjob auf sich nahmen. Sieben Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. STERN-Autor Hans Peter Schütz skizziert die politischen Lebenswege der sieben Kanzler
DER ALTE
KONRAD ADENAUER 1949-1963
Der Rosenzüchter täuschte. Rosen hat der Mann, der erst mit 73 ins Kanzleramt kam, nie gezüchtet. Konrad Adenauer liebte sie, das war's schon. Als Kind hatte er mal versucht, Stiefmütterchen zu Kletterpflanzen zu machen. Erfolgreicher war er als Erfinder: Er kreierte ein von innen beleuchtetes Stopfei und erfand eine Blendschutzbrille für Autofahrer.
Der erste Kanzler der Republik war mitnichten ein milder, Natur und Idylle zugewandter Mann. Adenauer konnte schroff und verletzend sein, war von nüchterner Strenge, ebenso misstrauisch wie nachtragend. Als der verachtete Nachfolger Ludwig Erhard stürzte, höhnte der 'Alte' mit dem Mongolengesicht: 'Hauptsache, et is einer wech!'
Nur nicht 'pingelig' sein war seine Maxime im politischen Geschäft. Bei der Eroberung der Macht verachtete er keinen Trick, und zu ihrer Verteidigung kam ihm auch unverfrorene Unaufrichtigkeit zupass. Aber er war ein Mann mit kaltblütigem Mut, der zu seinen Überzeugungen stand. Als Oberbürgermeister von Köln ließ er die Hakenkreuz-Fahnen niederholen, die Hitler beim Besuch der Stadt hatte hissen lassen. Als der Kanzler Adenauer in Moskau um die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen feilschte und Nikita Chruschtschow zornig mit den Fäusten fuchtelte, sprang er ihm ebenso wutschnaubend entgegen.
In der Ära Adenauer sind die Fundamente der Republik gelegt worden, auf denen alle Nachfolger aufbauen konnten: Einbindung der Bundesrepublik als gleichberechtigter Partner ins westliche Bündnissystem, Schlussstrich unter die deutsch-französische 'Erbfeindschaft', europäische Integration, Wiedergutmachung an Israel. Damit ist sein herausragender Platz im Geschichtsbuch der Nachkriegsrepublik gesichert. Den Zenit seines Ansehens erreichte er mit der Bundestagswahl 1957, als der Kanzlerwahlverein CDU/CSU die absolute Mehrheit (50,2 Prozent) für ihn eroberte.
Danach begann der Niedergang. Stur verweigerte er sich der Entspannungspolitik: Den 'Soffjets' könne man nicht trauen. Deutschlandpolitisch fand er kein Konzept. Als in Berlin die Mauer gebaut wurde, weigerte er sich tagelang, in der bedrängten Stadt zu erscheinen. Und was sich an Veränderung in der deutschen Gesellschaft anbahnte, ignorierte er.
'Mir ist, als hätte man mir Arme und Beine abgeschlagen', seufzte er, als er nach 14 Jahren Kanzlerschaft zum Rücktritt gezwungen worden war. Und gewiss hat er sich dabei nicht eine Sekunde mehr daran erinnert, wie er beim Amtsantritt gesagt hatte, mit seiner schwachen Lunge werde er allenfalls imstande sein, das Amt 'zwei Jahre' zu führen.
LUDWIG ERHARD 1963-1966
DER DICKE
Kein Kanzler war populärer. Die Deutschen liebten ihren 'Dicken', das Fleisch gewordene Symbol ihres Wohlstands, obwohl Ludwig Erhard mit 85 Kilo bei 176 Zentimeter Körpergröße eigentlich nicht übermäßig beleibt war. So himmelhoch überragten seine Sympathiewerte selbst jene Adenauers, dass dieser grimmig schwor: 'Den bringe ich auf Null.'
Keiner qualmte symbolischer, 15 Zigarren am Tag, wenn möglich, solche der Marke 'Schwarze Weisheit'; am Kabinettstisch des Kanzlers Erhard gab es kein Rauchverbot. Montags war der 'Kicker' Pflichtlektüre, denn leidenschaftlich nahm er am Fußball Anteil.
Und kein Kanzler kann kuriosere Schlenker des Lebenswegs vorweisen: Er machte als Ökonom Karriere, obwohl er lieber Pianist geworden wäre. Beim ersten Praxistest als bayerischer Wirtschaftsminister 1945/46 scheiterte der spätere Vater des Wirtschaftswunders wegen chaotischer Amtsführung kläglich. Der Titel 'Professor' wurde ihm von der Uni München ehrenhalber verliehen. Als Wahllokomotive schleppte er die CDU von Sieg zu Sieg, aber in die Partei trat er erst 1963 ein - weil er Kanzler werden wollte.
Wer der politischen Lebensleistung Erhards gerecht werden will, darf ihn nicht nur an den drei Kanzler-Jahren messen. Sein historisches Verdienst war die unerschütterliche Selbstgewissheit und Zuversicht, mit der er als Wirtschaftsminister am Prinzip der freien Marktwirtschaft festhielt. Das war Schwerarbeit, denn der Zeitgeist Ende der 40er Jahre rief nach Lenkung und Verstaatlichung.
Als Kanzler fehlte Erhard vergleichbare Konsequenz. Er schwankte, er zögerte, er fiel immer wieder um. Dünnhäutig flippte er bei Kritik aus. 'Pinscher', die kläfften, nannte er Schriftsteller. Als 'Gummilöwen' verspotteten ihn die Parteifreunde, die systematisch seine Demontage betrieben. 'Ludwig Erhard ist und bleibt unser Bundeskanzler', tönte Rainer Barzel, als die Intriganten in der Union längst seinen Sturz beschlossen hatten. Eine 'Mördergrube' nennt der Historiker Guido Knopp die CDU jener Zeit. Die Fotos seiner letzten Tage als Kanzler zeigen Erhard als tief verletzten, zerstörten Mann.
Aber kein Kanzler ist heute aktueller als Erhard. Er warnte schon damals vor der Überforderung des Sozialsystems durch die dynamische Rente und vor der Gefährdung des Sozialstaats durch die Politik immer neuer Wohltaten. Sein Rat, die Rente an den Produktivitätsfortschritt zu koppeln und nicht an die Einkommen, wurde missachtet; seine Maßhalte-Appelle - 'Der Staat ist nicht die Kuh, die im Himmel grast und auf Erden gemolken wird' - wurden belächelt. Aber er hat Recht behalten.
7
DER MODERATOR
Man erinnert sich: An 'Fröschle', die zweijährige Enkeltochter, die Kurt Georg Kiesinger huckepack durch Washington trug und damit einen liebenswerten Beitrag zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen leistete. Und natürlich an die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kiesinger auf einem CDU-Parteitag 1968 in Berlin verpasste. 'Kiesinger, Nazi', rief die junge Frau, die im Wortsinne mit einem Schlag Zeitgeschichte machte und fortan als Heldin der Außerparlamentarischen Opposition (Apo) galt.
Aber sonst? Kein Kanzler war schneller vergessen als Kiesinger. Und sofern Zeitgenossen mit gutem Gedächtnis sich des Mannes mit der kürzesten Amtszeit aller Ex-Regierungschefs erinnern, denken sie meist an Kuriosa: Dass die Hosenbeine immer viel zu kurz waren und er gern Lackslipper zu herunterhängenden Socken trug. Dass er ein 'Hörkanzler' gewesen ist, der sich Akten vortragen ließ, weil er zu faul war, sie zu lesen. Und geblieben von ihm ist auch der Name 'König Silberzunge', weil der 1,90 Meter stattliche Mann mit silbergrauem Haar an rhetorischer Eleganz alle übertraf, wobei die ' Callas des Bundestags' sich bei öffentlicher Selbstdarstellung zuweilen mit 'schwiemeliger Grandezza' aufplusterte, wie der 'Spiegel' einmal schrieb. 'Er trägt die Kanzlerschaft wie einen Hermelin', schwärmten seine Fans.
Ein Schöngeist als Kanzler. Wer ihn jedoch auf diese Rolle beschränkt, wird seiner politischen Leistung nicht gerecht. Potenter besetzt als das Kabinett Kiesinger war nie wieder ein Regierungs-Team. Schwarz wie Rot boten die Besten auf. Ein Moderator der Extraklasse war da gefragt, der 'wandelnde Vermittlungsausschuss' - Kiesinger eben. Jedes Entweder-oder hat er zum Sowohl-als-auch harmonisiert. Das dauerte zuweilen. Mal schlief Carlo Schmid am Kabinettstisch ein, mal höhnte Strauß: 'Ich habe heute meine Hängematte mit.'
Kiesingers Große Koalition arbeitete erfolgreich. Weil Wirtschaftsminister Schiller und Finanzminister Strauß als 'Plisch' und 'Plum' harmonierten, war die erste Wirtschaftskrise der Nachkriegsrepublik in Kürze bewältigt, die Staatskasse saniert und die Vollbeschäftigung zurückgewonnen. Auf Jahre bewährte sich das vom Kabinett Kiesinger verabschiedete Stabilitätsgesetz als Steuerungsinstrument der Wirtschaftspolitik. Unbegreiflich blieb Kiesinger das Aufbegehren der studentischen Jugend. Tragisch war sein Abgang: Nur knapp verpasste er 1969 die absolute Mehrheit. Er ließ sich mit einem Fackelzug feiern, dann ging er um Mitternacht schlafen - am nächsten Morgen hatten Willy Brandt und Walter Scheel die sozial-liberale Koalition besiegelt.
WILLY BRANDT 1969-1974
DER VISIONÄR
Der Kniefall, Dezember 1970. Die Hände verknotet, das Gesicht aus Granit. Gut eine halbe Minute verharrt Kanzler Willy Brandt mit gesenktem Kopf vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos - ein Bild, das als Symbol der Buße für die Nazi-Verbrechen um die Welt ging.
Eine Mehrheit der Deutschen hielt die Geste für übertrieben, die Ultrarechte gar für perfide Berechnung. 'Der hat sich nicht hingekniet, es hat ihn hingekniet', verteidigte ihn damals Henri Nannen, als Chefredakteur des STERN in Warschau vor Ort.
Das Misstrauensvotum, April 1972. Walter Scheel, FDP-Vizekanzler, gibt alles verloren: 'Was hier gespielt wird, ist ein schäbiges Spiel'. Recht hat er, denn Abgeordnete sind in der Tat gekauft worden - auf beiden Seiten. Alles vergebens. Zwei Stimmen fehlen dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel am dramatischsten Tag des Bundestags, um Brandt zu stürzen. Bei den Abgeordneten der SPD/FDP-Koalition fließen Freudentränen.
Mehr Gefühle waren nie in der bundesdeutschen Politik als zu Zeiten des sozial-liberalen Kanzlers Brandt. Nicht einmal fünf Jahre Amtszeit. Sie aber haben die Republik emotional wie strukturell stärker verändert als Jahrzehnte davor und danach. Faszinierender als Brandt war kein Kanzler. Ein Mensch in vielen Widersprüchen: Keiner quälte sich mehr mit Selbstzweifeln, keiner hat mehr Menschen mitgenommen und dennoch keinen an sich herangelassen. Nah und unerreichbar zugleich.
Er öffnete die deutsche Politik nach Osten und befreite sie damit aus der Schieflage, in die sie mit Adenauers Politik der einseitigen Westbindung geraten war. Brandt hat die Nachkriegsgeborenen, deren Väter sich den kritischen Fragen nach ihrer Verantwortung für die Nazi-Gräuel verweigerten, an den Staat herangeführt. Den Emigranten und Antifaschisten Brandt akzeptierten die '68er', zumal nach der Regierungserklärung von 1969 und deren Kernsatz: 'Wir wollen mehr Demokratie wagen', und: 'Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, sondern wir fangen erst richtig an.'
Barzels Misstrauensvotum und der nachfolgende emotionale 'Willy'-Wahlkampf von 1972 ('Christus würde Willy wählen', hieß ein Slogan) haben allerdings überdeckt, dass Brandt viele der innenpolitischen Ziele nicht erreichte. Seine 'Kanzlerdämmerung' war lang und schmerzvoll und zuweilen peinlich.
Der Mann der Visionen und des Friedens-Nobelpreises scheiterte am Klein-Klein des Alltags. An Ölkrise und Konjunktureinbrüchen. An seinem Desinteresse für wirtschaftspolitische Probleme - 'Willy Wolke', spotteten seine Gegner. So gesehen, handelte Herbert Wehner konsequent, als er Brandt 1974 zum Abschuss freigab: 'Der Herr badet gern lau - so in einem Schaumbad.' Dass mit Günter Guillaume ein DDR-Spitzel in Brandts engste Umgebung vordringen konnte, dass er im Umgang mit Frauen 'nie ein Säulenheiliger war' (Brandt), das waren nur Auslöser, nicht Ursache des Kanzlersturzes.
Zum Idol geworden, in die Rolle des Märtyrers gedrängt, von Depressionen geplagt, war er seiner Funktion als Symbolfigur am Ende selbst überdrüssig geworden.
HELMUT SCHMIDT 1974-1982
DER PFLICHTMENSCH
Der Kanzler weinte. Tränen der Erleichterung. 'Die Arbeit ist erledigt', hatte gerade eben Kanzler amtsminister Hans-Jürgen Wischnewski per Telefon ins Lagezentrum des Kanzleramts gemeldet. Die Befreiung von 86 Geiseln an Bord der Lufthansa-Maschine 'Landshut' auf dem Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadischu war geglückt. Helmut Schmidt trug ein Rücktrittsschreiben in der Tasche, das er für den Fall des Scheiterns der Befreiungsaktion verfasst hatte.
Herbst 1977: Die Mogadischu-Geiseln sind befreit, im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim verübt die Führung der Roten Armee Fraktion (RAF) kollektiven Selbstmord. Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wird von der RAF ermordet.
Hätte der Staat sich erpressen und die Terroristen freilassen sollen? Nein, hat Schmidt entschieden. Eine vergleichbare Entscheidung ist keinem anderen Kanzler aufgebürdet worden.
An Versuchen, die Persönlichkeit des Kanzlers mit der drittlängsten Amtszeit fortan aufs Klischee des Krisenmanagers abzumagern oder ihn als 'Staatsschauspieler' abzumeiern, hat es nicht gefehlt. Gewiss, der Mann nach Brandt war gewöhnungsbedürftig. Bis dahin hatte noch kein Regierungschef beim Gang durch den Kanzleramts-Park per Trillerpfeife den neuen Arbeitstag angekündigt. Alles hört auf mein Kommando - das war 'Schmidt-Schnauze'.
Aber von wegen nur 'Abkanzler': Von ihm stammt die Idee regelmäßiger Gipfeltreffen der wichtigsten Industriestaaten. Ihm ist das Europäische Währungssystem zu danken, ein entscheidender Schritt zur Einheit Europas. Seine von der SPD massiv angegriffene Sicherheitspolitik der Nachrüstung mit Pershing-Raketen hat die Abrüstungserfolge der 80er Jahre erst möglich gemacht, denn nun konnte der Westen aus einer starken Position heraus verhandeln. Und Schmidt hat das Land in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten mit Pragmatismus solide geführt. Dies gegen die eigene Partei, deren linker Flügel nicht einsehen wollte, dass die Deutschen über ihre Verhältnisse lebten.
Die Schwächen lagen woanders: Er unterschätzte das gestiegene Umweltbewusstsein und die Skepsis gegenüber der Kernenergie. Sein verkümmertes Gespür für diese neuen Themen hat den Aufstieg der Grünen erleichtert.
Schmidt fühlte sich als preußischer Hanseat mit hoch entwickeltem Selbstgefühl, dem es Genugtuung bereitete, die Pflicht zu erfüllen. Seine Werte waren Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. 'Das sind Sekundärtugenden', hat - ausgerechnet - Oskar Lafontaine gehöhnt: 'Damit kann man auch ein KZ betreiben.'
Damit wurde einem Kanzler erbärmlich Unrecht getan, der sich als erster Angestellter der Republik abgearbeitet hat, bis er - gesundheitlich schwer angeschlagen, von der FDP verraten und der SPD-Linken zermürbt - schleppenden Schrittes am 1. Oktober 1982 nach der Wahl Helmut Kohls zum Kanzler den Bundestag verließ.
HELMUT KOHL 1982-1998
DER EUROPÄER
Helmut Kohl kann es nicht glauben. Da sitzt er am 9. November 1989 beim Diner mit der polnischen Regierung im Warschauer Palais Radziwill, und sein Sprecher Eduard Ackermann meldet: 'Herr Doktor Kohl, halten Sie sich fest: Die DDR-Leute machen die Mauer auf!' 'Das gibt's doch nicht', antwortet Kohl und verbringt eine schlechte Nacht, denn er weiß, dass er 'zur falschen Zeit am falschen Ort' sitzt.
Nächsten Tag fliegt er nach Berlin, wird vor dem Schöneberger Rathaus gnadenlos ausgepfiffen - und gewinnt wenig später mit einem Zehn-Punkte-Plan die Initiative im Entstehungsprozess der deutschen Einheit zurück.
Der Kanzler, der mit dem Anspruch auf die 'geistig-moralische Wende' angetreten war, sich bis dahin aber innenpolitisch mehr schlecht als recht durchgestümpert hatte und den einflussreiche Parteifreunde zum Abschuss reif wähnten - dieser Kohl nutzte die ihm unerwartet zugefallene Gunst der historischen Stunde und bewies, dass er weit mehr war als die verspottete 'Walz aus der Pfalz' mit ausschließlichem Talent zur persönlichen Machtsicherung. 'King Kohl' ist damals geboren worden - ein Politiker, der die westlichen Alliierten und die Sowjetunion mit virtuoser Diplomatie auf den Kurs der schnellen Einheit zwang. Kohl war damals mehr als nur Helmut im Glück. Er agierte instinktsicher, mutig und operativ listig. Mit dem Gewinn der Einheit sicherte er sich einen ebenbürtigen Platz neben Adenauer und Brandt.
Noch höheren Rang in den Geschichtsbüchern kann Kohl als Vollender der europäischen Einheit beanspruchen. Sie war sein politischer Lebenstraum. Innenpolitisch blieb der Rekordkanzler ein Minus-Mann. Der Kanzler der Einheit ist auch der Kanzler der Rekord-Arbeitslosigkeit, der überforderten Sozialsysteme und der zerrütteten Staatsfinanzen.
Die Kraft Kohls reichte am Ende nicht mehr, den Stillstand der Bonner Politik zu überwinden. Die globale Zeitenwende überforderte ihn. Und die Größe, das Amt zeitig genug an Wolfgang Schäuble weiterzureichen, besaß er nicht. So verantwortet er selbst den Makel, als erster Kanzler von den Wählern direkt abgewählt worden zu sein.
GERHARD SCHRÖDER Seit 1998
DER DARSTELLER
An zwei Szenen ist kein Vorbei kommen, will man Gerhard Schröder erklären. Vor vielen Jahren rüttelte er, leicht jenseits der Promillegrenze, am Zaun des Kanzleramts und schrie: 'Ich will hier rein.' Nach rund 100 Tagen im Kanzleramt posierte er stundenlang im Cashmere-Mantel (4000 Mark) und in handvernähten Schuhen (1100 Mark) vor der Kamera des Lifestyle-Fotografen Peter Lindbergh.
Erhard Eppler trifft es genau, wenn er über den Kanzler sagt: 'Der hat dreimal hier gerufen, als Gott die Machtinstinkte verteilt hat.' Man darf ergänzen: Als die Eigenschaft Selbstverliebtheit und das Talent der Selbstdarstellung dran waren, hat der Niedersachse ebenfalls Nachschlag geholt.
Mit prallerem Selbstbewusstsein als der Kanzler der ersten rot-grünen Koalition trat bisher keiner an. Ein strahlender Wahlsieger: Für Schröder kippten die Wähler erstmals einen amtierenden Regierungschef. 40,9 Prozent für die 'Neue Mitte', seine Erfolgformel. Schneller als Schröder hat allerdings auch noch keiner das Vertrauen der Wähler vertändelt - die Zustimmung zur SPD rutscht mittlerweile in Richtung 30-Prozent-Marke.
Chaos kennzeichnete Monate das Regierungshandeln. Zickzack in der Steuer-, Umfall in der Rentenpolitik. SPD-Chef und Finanzminister Oskar Lafontaine ging von der Fahne und droht nun mit Abrechnung. Schröder, der sich sein politisches Leben lang gegen die SPD profiliert hat, musste den ungeliebten Parteivorsitz übernehmen. Jetzt ist zwar ein beachtliches Reformpaket geschnürt, mit dem sich die Staatsfinanzen sanieren und die Aussichten auf neue Arbeitsplätze verbessern lassen. Aber möchte man darauf wetten, dass Schröder das Stehvermögen auch hat, das er mit seinen Macho-Allüren signalisiert? Und niemand weiß, wie viele Stammwähler der SPD bleiben, wenn er seine Partei tatsächlich auf einen neuen ökonomischen Kurs zwingt.
Ein Kanzler ohne Eigenschaften wurde er dieser Tage genannt. Einer, der die Mechanik der Macht beherrsche, nicht aber ihre Inhalte. Schröder reicht die Verantwortung für sein frühes Tief an die SPD weiter: Die müsse die Frage beantworten, ob die SPD-Regierungszeit nach Dauerkanzler Kohl Episode bleibe oder aber Beginn einer Epoche. Typisch Schröder: Den Kanzlerjob betreibt er, die Cohiba zwischen den Zähnen, als One-Man-Show. Für den Fall, dass der Auftritt als Kanzlerdarsteller schief läuft, schiebt er schon mal die Schuld von sich weg.
Schröder nennt Helmut Schmidt sein Vorbild. Der lag in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ebenfalls im Dauerclinch mit der SPD und regierte ebenfalls nach der Schröder-Devise 'Erst das Land und dann die Partei'. Der spielte ebenfalls virtuos auf den Instrumenten der Medien-Demokratie. Auf die Idee von Schröders teuren Kleidern wäre er nie gekommen.