Die Stunde "W" schlug am 1. August 1944 um 17 Uhr. Mit dieser Tarnbezeichnung löste die Führung der konspirativen nationalpolnischen Heimatarmee den Aufstand in Warschau aus. Militärisch richtete er sich gegen die deutschen Besatzer, politisch gegen die Sowjetunion. Die Zeit drängte: Nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte befand sich die Wehrmacht auf einem überstürzten Rückzug, und im ostpolnischen Lublin war auf Stalins Geheiß ein kommunistisches "Befreiungskomitee" gegründet worden.
Der Kampf um die polnische Hauptstadt dauerte 63 Tage. Da die erhoffte militärische Hilfe von der Roten Armee ausblieb, mussten die Aufständischen kapitulieren. Der Preis für die versuchte Selbstbefreiung war hoch: Mehr als 150.000 Menschen fielen ihr zum Opfer. Die überlebenden Einwohner Warschaus wurden zur Zwangsarbeit deportiert und die Stadt von den Deutschen systematisch zerstört.
15.000 Zivilisten ermordet
Besonders in den ersten Tagen des Aufstands verübten Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten zahlreiche Verbrechen. Allein am 5. August ermordeten so genannte "fremdvölkische Verbände" und eine Bewährungseinheit der SS in den Stadtteilen Ochota und Wola etwa 15.000 Zivilisten - Frauen, Kinder und Kranke in den Spitäler. Die Verbände gehörten zur "Kampfgruppe Reinefarth". Den aus verschiedenen Einheiten eilig zusammengestellte Haufen kommandierte der Höhere SS- und Polizeiführer Heinz Reinefarth, der von Himmler aus Posen nach Warschau beordert wurde, um den Aufstand niederzuschlagen. Wer war dieser "Schlächter von Warschau"?
Der damals 41-jährige Reinefarth besaß keine Erfahrung als Befehlshaber größerer bewaffneter Verbände, aber das Vertrauen des Reichsführers-SS. Als Student der Rechtswissenschaften in Jena trat er 1932 der NSDAP und SS bei. Seine Karriere in Himmlers SS-Imperium begann jedoch erst 1942, als er kriegsverwundet aus der Wehrmacht ausschied. Innerhalb von zwei Jahren stieg Reinefarth bis in die höchsten SS-Ränge auf. Unmittelbar vor dem Warschauer Aufstand ernannte ihn Hitler zum SS-Gruppenführer und Generalmajor der Polizei.
"Weniger Munition als Gefangene"
Reinefarth führte bedenkenlos Himmlers Befehl aus, alle Aufständischen und Zivilisten zu töten. Er habe "weniger Munition als Gefangene", beklagte sich Reinefarth beim Oberbefehlshaber der bei Warschau stationierten 9. Armee Nikolaus von Vormann am 5. August. Als die marodierenden Truppen die Kampfmoral bedrohten und den Widerstand der Aufständischen verstärkten, wurden die Massaker an der Zivilbevölkerung unterbunden.
Für seinen Einsatz in Warschau erhielt Reinefarth das Eichenlaub zum Ritterkreuz, eine der höchsten militärischen Auszeichnungen des "Dritten Reichs". Derart bewährt, ernannte ihn Hitler im Januar 1945 zum Kommandanten der "Festung Küstrin". Reinefarth verweigerte jedoch den unsinnigen Befehl, die Stadt an der Oder gegen die Roten Armee zu verteidigen, und floh mit seinem Stab nach Westen. Das daraufhin eingeleitete Kriegsgerichtsverfahren blieb folgenlos; Reinefarth geriet Anfang Mai 1945 in britische Kriegsgefangenschaft.
Konsequent gegen Entnazifizierung
Die polnischen Behörden wollten den "Henker von Warschau" vor Gericht bringen, doch der beginnende Kalte Krieg bewahrte Reinefarth vor der Auslieferung. Im Gegensatz zu anderen hochrangigen SS-Führern suchte er seine zweite Chance nicht in der Wirtschaft, sondern in der Politik. Als Mitglied des "Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE) wurde Reinefarth 1951 zum Bürgermeister von Westerland auf Sylt gewählt. Für die selbsternannte Interessenvertretung der Kriegsverlierer, die ab 1952 unter dem Namen "Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (GB/BHE) firmierte, war er auch im Landesverband von Schleswig-Holstein aktiv. Im nördlichsten Bundesland, wo der Bevölkerungsanteil der Flüchtlinge und Vertriebenen besonders hoch war, hatte die Partei ihre Machtbasis. Bei den Landtagswahlen 1950 erhielt der BHE mehr Stimmen als die CDU. Konsequenter noch als andere Parteien setzte sich der BHE für ein Ende der Entnazifizierung ein.
Ende der 50-Jahre geriet Reinefarth ins Visier der antifaschistischen Kampagnen der SED. In der DEFA-Dokumentation "Urlaub auf Sylt" klagten ihn die Filmemacher Annelie und Andrew Thorndike 1957 als einen der "übelsten Nazi-Kriegsverbrecher in der Bundesrepublik" an. Die polnischen Behörden forderten öffentlich die Auslieferung des "Mörders von Warschau". Die Staatsanwaltschaft Flensburg nahm daraufhin Ermittlungen gegen Reinefarth auf, die jedoch noch vor der Landtagswahl 1958 eingestellt wurden. Als Abgeordneter des GB/BHE zog Reinefarth in den Kieler Landtag ein. Zeitweilig war er als Amtschef im Innenministerium im Gespräch.
Reinefarth schob Schuld von sich
Reinefarth bestritt die gegen ihn erhobenen Vorwürfe und schob die Schuld an den Verbrechen anderen zu. Volle Unterstützung erhielt er von Hans-Adolf Asbach, dem Landesvorsitzenden des GB/BHE und Arbeitsminister von Schleswig-Holstein. Asbach war während es Zweiten Weltkriegs Kreishauptmann im besetzten Polen gewesen.
Doch auch im "braunen Naturschutzgebiet" (Die Zeit) Schleswig-Holstein war die Schonzeit für NS-Größen vorbei. Aufgrund neuer Erkenntnisse des Historikers Hanns von Krannhals, der anhand von Dokumenten die Verantwortung Reinefarths für die Massaker in Ochota und Wola nachweisen konnte, nahm die Staatsanwaltschaft erneut Ermittlungen auf. Die Verleumdungsklagen, die Reinefarth gegen Krannhals und andere anstrengte, verschafften seinem Fall nur noch mehr Aufmerksamkeit. Unter dem öffentlichen Druck hob der Landtag 1961 Reinefarths Immunität als Abgeordneter auf; zwei Jahre später trat er als Bürgermeister von Westerland zurück. Für die Verbrechen in Warschau musste er sich jedoch nicht verantworten. Die Staatsanwaltschaft Flensburg stellte ihre jahrelangen Ermittlungen schließlich ein. Nach dem erzwungenen Rückzug aus der Politik arbeitete Reinefarth wieder als Rechtsanwalt. Er starb am 7. Mai 1979 in Westerland auf Sylt - fast auf den Tag genau 34 Jahre nach dem Kriegsende.