Zu den besonderen Sehenswürdigkeiten der britischen Hauptstadt gehört zur Mittagsstunde ein Menschenauflauf in den Pubs in der City. Vornehmlich männliche Kundschaft steht vor den Tränken, und man ernährt sich von ein paar Pints. Nach ein bis zwei Stunden löst sich das auf, die Herren in den schicken Anzügen eilen zurück an ihre Arbeitsplätze, und wenige Stunden später, nach der Schicht, stehen sie wieder friedlich vereint am Tresen.
Man nennt dieses sehr britische Ritual auch “liquid lunch“, flüssiges Mittagessen. Beim flüssigen Mittagessen wird selbstverständlich auch flüssig kommuniziert. Diese Arbeitstrinken generieren Deals, sie heben die Stimmung und die Umsätze der Pubs. Die Wirtshäuser, muss man wissen, können Hilfe durchaus gebrauchen, weil entgegen der landläufigen Meinung auf der Insel immer weniger Alkohol konsumiert wird und jeden Tag vier dieser großartigen Destillen schließen. In England und Wales gibt es gerade noch 43 231 Pubs, man kann also von einer aussterbenden Gattung sprechen und auch deshalb den Groll der Angestellten von “Lloyd’s Bank“ verstehen, denen künftig die mittägliche Zecherei verboten werden soll. Angeblich leidet ihre Produktivität darunter.
Es gab selbstredend einen zünftigen Aufschrei danach, und auch die Kollegen von anderen Banken solidarisierten sich, weil denen a) ihre Kumpanen koppheister gehen und sie b) befürchten müssen, dass auch ihre Arbeitgeber eines nicht mehr fernen Tages…Also wehret den Anfängen und sauft für den Weltfrieden.
Churchill zechte schon zum Frühstück
Das Schickern hat schließlich eine lange Tradition. Winston Churchill verköstigte bereits morgens größere Mengen Wein zum Frühstück. Er hielt den Pegel tagsüber stabil und süffelte ihn gegen Abend noch mal in die Höhe. Er wurde dennoch 90 Jahre, gilt bis heute als einer der größten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts und hinterließ der Nachwelt herrliche Bonmots, von denen viele im Brausekopf entstanden. Eines der berühmtesten im Gespräch mit der Labour-Politikerin Bessie Braddock, die ihn zu vorgerückter Stunde anraunzte. “Winston, Sie sind betrunken und sogar furchtbar betrunken.“ Was er, wie es heißt, angesichts erdrückender Beweislage keineswegs abstritt, sondern knarzte: “My Dear, und Sie sind hässlich und sogar furchtbar hässlich. Aber morgen bin ich wieder nüchtern und Sie sind immer noch hässlich.“
Diese schon etwas ältere Episode bringt uns nun geradewegs von der City in eine der berüchtigtsten Schänken der Stadt, die “Stranger’s Bar“ im Parlament, zu der neben den Abgeordneten eben auch Gäste Zutritt haben. Vor einiger Zeit hatte ich mal das Vergnügen, dort der britischen Polit-Elite beim Feierabendbier zuzuschauen. Die Bar hat einen legendären Ruf, obschon ganz gewiss nicht besonders edel. Sie erinnert eher an die Kantine eines Gewerkschaftsheims, zieht ergo auch mehr Labour-Leute an, und von einem, Eric Joyce, ist der Ausruf überliefert, es seien heute viel zu viele “fucking Tories“ da. Joyce gab später kleinlaut zu, “hammered“ gewesen zu sein. Das ist eine wonnige Vokabel für betrunken, wie man überhaupt neidvoll konzidieren muss, dass die Briten eine Vielzahl von bemerkenswert schönen Begrifflichkeiten für diesen allzu menschlichen Zustand besitzen. Eine kleine, feine Auswahl hier – tipsy, tiddly, boozed, plastered, squiffy, mullered, pickled, sloshed, sozzled, wellied und auch blotto, trolleyed und stonkered.
Streit in der Bar und dann auf Twitter
Vor zwei Wochen muss der für den Brexit zuständige Minister David Davis in der “Stranger’s Bar“ mindestens tiddly, wenn nicht gar sozzled oder vollends blotto gewesen sein, als er seiner Labour-Kollegin Diane Abbott angesichtig wurde, die zuvor wegen Unwohlseins eine wichtige Abstimmung über den EU-Ausstieg versäumt hatte. Davis, ein Mann von überschaubarer Attraktivität, wollte Abbott umarmen und einen Kuss auf die Stirn drücken, was die mit dem Hinweis „Fuck off“ nüchtern zurückwies. Der Streit eskalierte danach auf Twitter, wo Davis die Kuss-Attacke mit der kleinen Unverschämtheit dekorierte, er habe schon deshalb Abbott nicht küssen wollen, weil er doch nicht blind sei. Hammered war er aber mindestens, und Freunde werden die beiden in diesem Leben wohl nicht mehr.

Diese frische Episode und ihre Fortsetzung auf dem Kurznachrichtendienst wiederum trägt uns nun aus Westminster übers große Wasser und geradewegs ins Weiße Haus. Dessen neuer Insasse Donald Trump bekanntlich keinen Tropfen trinkt, aber twittert wie von Sinnen und regiert, als sei er wenigstens Pegeltrinker von Churchillschen Maßen. Vielleicht ist die Abstinenz sein Problem. Vielleicht sollte ihm jemand mal etwas in den Tee tun oder in den Kaffee. Er könnte auch diesbezüglich von Churchill lernen. Von dem kursiert im Königreich eine weitere und heitere Pretiose. Nancy Astor, Britanniens erste weibliche Abgeordnete, soll einmal zu ihm gesagt haben “Wenn ich Ihre Frau wäre, würde ich Gift in Ihren Kaffee tun“. Worauf Churchill sprach: “Und wenn ich Ihr Mann wäre, würde ich ihn trinken.“
Leider, leider wurde diese Geschichte neulich als Legende enttarnt. Ausgerechnet von Boris Johnson, dem Brexit-Münchhausen und Churchill-Biographen. Fake also. Trump wird das wenig scheren. Er hält ja fake für news und news für fake. Wohingegen glücklicherweise unverrückbar feststeht, dass Schnaps auch Schnaps bleibt. In diesem Sinne verabschieden wir uns für diese Woche und begeben uns auf der Stelle in den nächsten Pub. Zum liquid lunch und Trinken für den Frieden. Worauf Sie Gift nehmen können.