In gut einem Monat, am 8. November, wählen die USA einen neuen Kongress. Die Bürger:innen wählen dann das gesamte Repräsentantenhaus mit insgesamt 435 Abgeordneten neu. Zudem wird ein Drittel der Sitze des Senats, also 35, neu gewählt. Derzeit verfügt die demokratische Partei von Präsident Joe Biden in beiden Kongresskammern über eine hauchdünne Mehrheit. Im Repräsentantenhaus besetzen sie 222 der 435 Sitze.
Im Senat ist die Mehrheit noch knapper. Republikaner und Demokraten verfügen jeweils über 50 Sitze. Nur die Extra-Stimme von Vizepräsidentin Kamala Harris gibt hier den Ausschlag. Von den 35 Senatssitzen werden aktuell 14 von Demokraten und 21 von Republikanern gehalten. Die meisten von ihnen gelten aufgrund des Zweiparteiensystems als sicher. Allerdings würde es den Republikanern genügen, zwei Staaten zurückzugewinnen, die bei der Wahl vor zwei Jahren noch an Joe Biden gingen.
Die größte landesweite Wahl nach den Präsidentschaftswahlen gilt in der Regel als Abrechnung mit der derzeitigen Regierung in Washington. Es ist daher nicht verwunderlich, dass besonders die Opposition bei den Midterms regelmäßig Erfolge feiern kann. 2018 konnten die Demokraten Trumps Republikanern das Repräsentantenhaus stehlen. Vier Jahre zuvor, inmitten von Barack Obamas Amtszeit, gewann die republikanische Partei dafür direkt beide Kongresskammern und blockierte daraufhin so ziemlich jede Entscheidung des ehemaligen Präsidenten.
Umso überraschender zeigten die meisten Umfragen im Sommer klare Vorteile bei den Demokraten. Insbesondere in der so wichtigen Wählergruppe der Wechselwähler:innen schienen sie besonders hohe Chancen zu haben. Die meisten Wähler:innen in den USA sind loyal zu einer der beiden großen Parteien. Laut einer Umfrage der "New York Times" sehen sich 31 Prozent definitiv als Demokraten und 30 Prozent definitiv als Republikaner. Nur rund drei Prozent gehören einer anderen Partei an. Bei den vielen engen Rennen bei den Midterms wird es also vor allem auf die unabhängigen Wechselwähler:innen ankommen.
Aus einer knappen Führung in den Umfragen für Demokraten ist inzwischen eine komfortable Situation für den politischen Gegner entstanden. Unter den Wechselwähler:innen präferiert eine Mehrheit der Amerikaner:innen eine:n republikanische:n Kandidat:in in ihrem jeweiligen Wahlkreis. Auf das Land gerechnet führen Republikaner deutlich mit drei Prozent vor den regierenden Demokraten. Vor einem Monat hatten noch die Demokraten mit einem Prozent geführt. Republikaner holen dabei nicht nur in wichtigen Rennen um Plätze im Senat auf, sondern auch sicher geglaubte Plätze für Demokraten im Repräsentantenhaus geraten immer mehr in Gefahr.
Vier Prozentpunkte Unterschied scheinen in einer nationalen Umfrage kein allzu großes Problem darzustellen. Die Ausmaße für die Partei von Präsident Joe Biden könnten allerdings verheerend sein. Sollten sich die Umfragewerte bis Anfang November nicht ändern, könnte nicht nur der sicher geglaubte demokratische Sieg im Senat auf der Kippe stehen. Der Verlust vieler Wechselwähler:innen wäre wohl auch das endgültige Aus für die blauen Hoffnungen, das Repräsentantenhaus verteidigen zu können, meint der Autor der "New York Times"-Studie Nate Cohn.
Inflation, Migration und Kriminalität werden immer wichtiger
Woher kommt der plötzliche Sinneswandel vieler Wechselwähler:innen so kurz vor der Wahl? Auch darauf gibt die Umfrage eine ziemlich klare Antwort. Nach der Entscheidung des Supreme Courts, die historische Gerichtsentscheidung Roe v. Wade zu überstimmen, war das Recht auf Abtreibung das am meisten diskutierte Thema in der amerikanischen Gesellschaft.
Zudem versetzten die Amokläufe in Buffalo, Uvalde und Highland Parks das gesamte Land mal wieder in eine Schockstarre. Im Kongress wurde heftig über die Reglementierung von Waffenbesitz diskutiert. In beiden Themengebieten verfügen Demokraten traditionell über mehr Vertrauen in der Bevölkerung. Auch wenn viele Konservative Abtreibungen und strengere Waffengesetz ablehnen, tendieren vor allem Wechselwähler:innen hier eindeutig zu den Demokraten. Dieser Vorteil wurde besonders durch die öffentlichen Anhörungen nach dem Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 verstärkt. Landesweit wurden die Gerichtsverhandlungen im Livestream übertragen. Ein Umstand, der kein gutes Licht auf einige hochrangige Mitglieder der republikanischen Partei geworfen haben dürfte.
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Inzwischen beherrschen jedoch andere Themen die Nachrichten. Viele Bürger:innen haben Angst vor der wirtschaftlichen Situation im Land. Geflüchtete werden zwischen Bundesstaaten hin- und hergeflogen und republikanische Senatoren warnen vor einer steigenden Kriminalität im Land. 52 Prozent der Befragten gaben bei der aktuellen Studie an, dass sie diese drei Themen am ehesten für wahlentscheidend halten. Für die Sicherheit der Demokratie, strengere Waffengesetze und das Recht auf Abtreibungen sprachen sich hingegen nur 14 Prozent aus. Ein klarer Rückgang im Vergleich zum Sommer.
Sowohl bei wirtschaftlichen Fragen als auch bei der Handhabung von Migration und Kriminalität besitzen die Republikaner deutlich mehr Vertrauen in der Bevölkerung. Die Oppositionspartei ist sich dieses Umstands bewusst. Daher fokussieren sich die Republikaner in ihren Werbespots und Wahlkampfauftritten auch genau auf diese Abgrenzungen. Wann immer sich ein Demokrat für eine stärkere Überwachung der Polizei oder Justizreform einsetzt, gilt er bei den Republikanern als "weak on crime". Diese Message scheint bei den Wähler:innen zu verfangen.
Midterms: Frauen und Arbeiter:innen könnten Ausschlag geben
Eine demographische Gruppe, bei der die Republikaner mit ihrem Fokus besonders aufholen konnten, sind Frauen. Diese sind besonders bei den Themen Abtreibung und Waffenbesitz traditionell auf Linie mit der demokratischen Partei. In der aktuellen Studie der "New York Times” gab aber auch unter ihnen eine Mehrheit an, wegen der Wirtschaft und steigenden Kriminalität besorgt zu sein. Ein weiterer Erfolg für die Republikaner.
Neben Frauen scheinen die Demokraten zudem auch Menschen aus der Arbeiterklasse ohne College-Abschluss an den politischen Gegner zu verlieren. Mit weitem Abstand halten diese Inflation und Wirtschaft für die wichtigsten Themen bei der kommenden Wahl. Schon bei der Wahl von Donald Trump vor sechs Jahren stand der Vorwurf im Raum, den Demokraten wäre es nicht gelungen, diese ursprünglich als sicher geltende Wählergruppe abzuholen.
Ob die Demokraten in den nächsten drei Wochen zurückschlagen können, ist offen. In ihren Wahlwerbungen beziehen sich die demokratischen Kandidat:innen zumindest noch immer größtenteils auf die Entscheidung gegen Roe v. Wade und das Recht auf Abtreibung. Die aktuelle Nachrichtenlage und der öffentliche Diskurs scheinen weiter gegen sie zu laufen. Ohnehin dürfte es schwierig werden, sich so kurz vor der Wahl ein überzeugendes Profil anzueignen, welches die Wechselwähler:innen bei Inflation, Migration und Kriminalität überzeugen könnte. Ein Verlust beider Kongresskammern wäre ein herber Rückschlag für Präsident Biden und die Demokraten. Ohne Mehrheit lassen sich schließlich auch kein schärferes Waffengesetz oder ein gesetzliches Recht auf Abtreibung durchsetzen.