Paul Kirchhof Die Parteien müssen Farbe bekennen

Derzeit wählen Bürger häufig eine Partei - ohne zu wissen, welches Bündnis diese eingehen wird. Deshalb fordert Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof verbindliche Festlegungen vor der Wahl.

Stellen Sie sich vor: Bei einem Ruderwettbewerb – der Zweier ohne Steuermann – sind acht Boote am Start. Ein schwarz-gelbes, ein rot-grünes, dazu sechs weitere. In jedem Boot sitzt vorne ein größerer und hinten ein kleinerer Ruderer. Das schwarz-gelbe Boot geht mit hauchdünnem Vorsprung vor dem rot-grünen durchs Ziel, die anderen folgen abgeschlagen. Die beiden Ruderer des ersten Bootes jubeln, das Publikum klatscht Beifall. Doch auf dem Weg zum Siegerpodest hören sie eine Lautsprecherdurchsage: Die Rennleitung erklärt den größeren Ruderer aus Boot 1 und den größeren Ruderer aus Boot 2 zum Sieger, den schwarzen und den roten. Das Publikum ist empört.

Bei Wahlen in Deutschland geht es mittlerweile genauso zu: Kandidaten und Parteien wetteifern um die Gunst der Wähler. Doch am Wahlabend steht der Sieger nicht fest. Stattdessen wird wochenlang über eine Koalition verhandelt. Wie in Thüringen.

Zur Person

Professor Paul Kirchhof ist Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Im Wahlkampf 2005 schlug er als Finanzexperte in Angela Merkels Team eine Steuer-Flat-Tax vor. Von 1987 bis 1999 war er Richter am Bundesverfassungsgericht.

Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem neuen Buch "Das Maß der Gerechtigkeit". Es erscheint bei Droemer und kostet 19,95 Euro.

Bislang gab es klare politisch-programmatische Alternativen

Wie im Saarland. Der Wähler entscheidet nicht die Wahl, sondern stattet die von ihm gewählte Partei mit Verhandlungsmacht aus.

Das ist neu, denn das deutsche Wahlsystem stellte die Wähler jahrzehntelang vor eine klare politisch-programmatische Alternative. Die CDU/CSU trat in Wettbewerb mit der SPD - fast immer war bekannt, auf welcher Seite die FDP kämpfte. Später stand eine schwarz-gelbe Alternative einer rot-grünen gegenüber. Stets wusste der Wähler, welche der beiden Alternativen er mit seiner Stimmabgabe wählte. Doch inzwischen sind mehr Parteien im Parlament vertreten. Bei der Wahl ist offen, welche Parteien bei der Regierungsbildung zusammenwirken. Das Wahlergebnis bringt keinen Sieger hervor, sondern veranlasst Parteienverhandlungen mit ungewissem Ausgang. Das demokratische System verliert die unmittelbare Nähe zwischen Wählerwillen und Mandatsträger.

Das muss sich ändern. Das Wahlrecht sollte die Parteien verpflichten, ihre Koalitionsabsichten dem Wähler verbindlich vor der Wahl mitzuteilen. Die Partei A wird dann erklären, sie hoffe, allein die absolute Mehrheit der Parteistimmen zu erringen. Sollte sie dieses Ziel nicht erreichen, werde sie zusammen mit der Partei B eine Koalition eingehen. B bestätigt dieses Vorhaben. Die Parteien C und D erklären, zusammen die Mehrheit der Stimmen erreichen zu wollen. Die Partei E bekundet, dass sie Oppositionspartei werden und dort eine kraftvolle Gegen- und Kontrollposition gegenüber der Regierungspolitik übernehmen wolle. Das ist verbindlich - für eine Wahlperiode.

Koalitionen können hochgestuft werden

Der Wähler bekommt klare programmatische und personelle Alternativen. Er bestimmt bereits am Wahlabend allein durch seinen Wahlentscheid, welche Partei oder Koalition die Parlamentsmehrheit und die Regierung bilden wird.

Auch dieses System kann allerdings dazu führen, dass keine dieser Parteien oder Koalitionen die absolute Mehrheit erringt. Auch in diesem Fall muss das Wahlrecht den Wahlwettbewerb mit einem Sieger beenden: Die Partei oder die dem Wähler angekündigte Koalition mit den meisten Stimmen erhält 50 Prozent plus fünf Sitze. Sie kann also für vier Jahre regieren, weil sie unter den dem Wähler vorgestellten parteipolitischen Alternativen das beste Ergebnis erzielt hat. Wenn also eine zur Wahl stehende Partei oder Koalition 46 Prozent der Stimmen erhält, die andere 44, hat die erste die Wahl gewonnen und erhält 50 Prozent plus fünf der Parlamentssitze. Sollte eine so gewählte Regierung während der Legislaturperiode auseinanderbrechen, wäre eine Neuwahl anzusetzen. Andere Koalitionsabsprachen wären nicht zulässig. Über Parlamentsmehrheit und Regierung entscheidet allein der Wähler.

Da keine Partei verlässlich ihr Wahlergebnis voraussagen kann, werden sich alle Parteien vorab um Koalitionen bemühen, die möglichst sicher ein Ergebnis in der Nähe oder oberhalb der Fünfzigprozentgrenze versprechen. Zugleich geht die Partei gegenüber dem Wähler ins Wort. Der Wähler weiß, welche Parteien er mit seiner Stimme für die Regierungsverantwortung bestimmt und welche er von der politischen Macht fernhält. Umgekehrt kann der Wähler die Bereitschaft einer Partei, auch mit ihm unerwünschten Parteien zusammenzuarbeiten, in seiner Wahlentscheidung beantworten.

Dieses Wahlsystem erneuert das Gleichgewicht zwischen dem die Regierung hervorbringenden Wähler und der in diesem Wahlauftrag tätigen Regierung. Der Wähler weiß, wen er wählt. Der Gewählte wird allein durch den Wähler bestimmt. Er erlebt die Bedeutung seiner Wahlentscheidung unmittelbar.

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