Jetzt hat er wieder eine Idee. Er trägt sie vor wie man ein Frischgeborenes vorzeigt, ganz zart und unverbraucht, so wie es auf die Welt kommt. Kann jemand etwas dagegen haben? Gegen diese neue Idee, die doch jedem plausibel erscheinen müsste, die klar und radikal und vernünftig scheint?
Warum, fragt Paul Kirchhof, der Professor aus Heidelberg, verpflichten wir die Parteien nicht zu festen Koalitionsaussagen vor der Wahl? An die sie sich halten müssten, komme was wolle? Dann wüsste der Wähler endlich wieder, ob er Schwarz-Gelb, Rot-Grün, Schwarz-Grün oder Rot-Gelb-Grün wähle, wenn er ein Kreuz bei der CDU oder SPD mache.
Für den Fall, dass es keiner Konstellation gelingt, die absolute Mehrheit zu erringen, hat er sich folgendes ausgedacht: Die Koalition, die zusammen den höchsten Anteil an Stimmen erringt, bekommt 50 Prozent im Parlament plus fünf Sitze. So einfach könnte Demokratie sein. So verlässlich.
Angriff auf der Kirmes
....erscheint bei Droemer und kostet 19,95 Euro.
Sein Konzept will klare Verhältnisse für jeden Wähler
Eine Große Koalition, die Union und SPD selber nicht wollen, wäre dann nicht mehr möglich. Kein Hängen und Würgen in einer ungeliebten Partnerschaft. Nur noch klare Verhältnisse.
Wahrscheinlich ahnt Paul Kirchhof selber, dass sich im politischen Betrieb nicht das Plausible durchsetzt, sondern das, was die Macht der Parteien und Interessensgruppen erhält. Auch im Fall der bindenden Koalitionsvereinbarung hieße es: SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier könnte sich nicht mehr in eine Große Koalition retten. Die Konsequenz: "Eine der großen Parteien würde sich von der Macht verabschieden."
Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht hat sich ein Gelübde auferlegt: Es zählt die Klarheit des Gedankens und der Geist des Grundgesetzes - der verlangt die "Unmittelbarkeit der Wahl". Mehr will er nicht, aber auch nicht weniger. "Auf den Vorschlag gibt es schon eine erstaunliche politische Aufmerksamkeit - auch aus den Parteien", freut sich Kirchhof. Öffentlich geäußert hat sich, das überrascht kaum, aber noch keiner.
In den bayerischen Bergen und in Heidelberg hat er sein neues Buch geschrieben. "Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht!" fordert es im Untertitel. Zufall, dass es kurz vor der Bundestagswahl erscheint, sagt er.
Kirchhof ist heftig in die Mühlen der Macht geraten
Dass es Kirchhof erneut in die öffentliche Debatte drängt, ist erstaunlich für jemanden, der derart heftig von den Mühlen der Politik zerrieben wurde. Im Wahlkampf 2005 holte Merkel den 1,96-Mann als möglichen neuen Finanzminister in ihr Kompetenzteam. Er hatte ein radikales Steuerkonzept in der Tasche, das sich mit so ziemlich jeder Interessensgruppe anlegte. Die von ihm vorgeschlagene "Flat-Tax" zog eine Welle der Entrüstung nach sich.
Schröder verhöhnte ihn als "merkwürdige Gestalt", als einen "Mann der Kälte", der die Deutschen zu "Versuchskaninchen" machen wollte. In vier Wochen wurde aus dem angesehenen Verfassungsrichter und Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband eine Lachnummer. Er hat gelernt, wie brutal es in der Hauptstadt zugehen kann.
Jetzt ist wieder ein Wahlkampf im Gange. Kirchhof will weiter querdenken. Was ist jetzt, in der schwersten Krise der Nachkriegszeit, zu tun? Kirchhof atmet tief ein. Seine Lösung liegt im Grundgesetz.
"In der Not, in der die Häuser und die Fabriken zerstört waren, die Männer in Gefangenschaft waren, sagte das Grundgesetz: Streng dich an und hilf dir selbst, dann geht es uns allen gut. Das war ein ungeheuer mutiges und radikales Freiheitskonzept."
Ist das ein Konzept für die heutige Lage, Herr Kirchhof?
"Heute ist unsere Ausgangslage viel besser. Wir haben jetzt alle Chancen, auf die Freiheit zu setzen."
Aber an den Finanzmärkten herrschte doch zu viel Freiheit - das hat die Krise mit verursacht.
"Die Anonymität der Finanzmärkte gefährdet eher die Freiheit. Keiner ist mehr verantwortlich."
Im Buch heißt es: "Nachbarschaft erwartet Rücksicht, Anonymität schafft Aggressivität." Auch in der Wirtschaft dürfe keiner im luftleeren Raum handeln. Zur Freiheit gehöre aber auch die Verantwortung. Bei der Bewältigung des Finanzdesasters müssten sich "diejenigen in ihrer Einsatz- und Opferbereitschaft hervortun, die die Krise verursacht und zu verantworten haben".
Verantwortung für sich und seine Umwelt übernehmen – das verlangt Kirchhof. Wohl auch deshalb fühlt er sich in seinem Ferienort so wohl. Hier kennt man sich, grüßt sich, hilft sich. Im Sommer und Winter verbringt er einige Wochen hier. Mit Gerhard Schröder hatte er sich nie getroffen, noch nicht einmal telefoniert. Sie waren sich nicht bekannt, als der Kanzler ihn anging wie einen Erbfeind. Nun ist die Hauptstadt weit weg, genau 637 Kilometer.
Die Häuser sind hier aus quadratmeter-großen Felsquadern gebaut, neben der Dorfstraße plätschert Wasser in einen steinernen Trog. Die Nachmittagssonne trocknet Kuhfladen auf dem Asphalt fest. Die Luft riecht nach frisch gewendetem Gras. Trotz der unangenehmen Schwüle trägt er Jackett, die Krawatte bindet sein weißes Hemd sauber ab. Seine Frau bringt Himbeerkuchen, der Blick geht einen Berghang hinauf, 800 Meter hoch.
Schröder und Kirchhof kannten sich nicht, als der Kanzler ihn anging wie einen Erbfeind
In der Abgeschiedenheit sieht der Finanzfachmann den Umgang der Regierung mit der Krise kritisch. "Der Staat mischt sich gegenwärtig fast maßstabslos ein. Er hilft immer - obwohl er kein Geld hat." Dabei sei das Ausmaß der Verschuldung - sie bewegt sich auf zwei Billionen Euro zu - längst "unvertretbar".
Wie Kanzlerin Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle sieht er dennoch Chancen für Steuersenkungen. "Die sind möglich - wenn wir die Staatsaufgaben zurücknehmen." Der Staat müsse dem Bürger wieder mehr Freiheit zurückgeben. Bei Kirchhof heißt das: Weg mit allen Vergünstigungen, weg mit allen Subventionen.
"Daran bricht unsere Gesellschaft fast auseinander"
"Der Staat gibt jedem das Gefühl, einen Anspruch auf Subventionen oder Vergünstigungen zu haben", sagt Kirchhof und beugt sich nach vorne. "Das entsolidarisiert. Daran bricht unsere Gesellschaft fast auseinander." Er sitzt auf der Stuhlkante und lässt seine langen Finger die Bergluft zerschneiden. Ihn emotionalisieren Gedanken, Argumente. Ämter strebt er, so sagt er es zumindest, nicht mehr an.
Als Ratgeber wäre er gerne gefragt. Aber ein Amt in Berlin? Bloß nicht, sagt sein Blick. Denn wenn der Mensch im Rampenlicht steht, verändere er sich. "Ich habe das selbst an mir erlebt."
Er hat den Himbeerkuchen aufgegessen. Er wird jetzt wandern gehen, hoch auf den Hang. Dort oben hat man einen sehr freien Blick.