Mondhelle Nacht auf hoher See. Eine steife Brise füllt die roten Segel. Die hat Jo mit seinem Didgeridoo herbeigepustet. Sagt er jedenfalls. Jetzt liegt der Mann mit dem kühnen Kopftuch im "Salon" auf einer Holzpritsche, um zu meditieren. Abdul Haris hat seinen Gebetsteppich nach Mekka ausgerollt. Salomon jongliert mit fünf Orangen. Caruso und sein brasilianischer Freund beugen sich mit Stirnlampen über ein Schachbrett. Und oben auf Deck steht Axel am Ruder. Peilt zum Horizont. Lauscht, wie die ächzenden Planken von Monsunstürmen und Tropenabenden erzählen, während die "Kublai's Kahn II" leise durch die Dunkelheit rauscht.
Solche magischen Momente werden Axel Brümmer fehlen, dem 39-jährigen Blondschopf aus Thüringen. Die Sonnenaufgänge, wenn die Musik von Santana die zehnköpfige Mannschaft aus den Schlafsäcken schmeißt. Die kalte Dusche mit Meerwasser aus dem Schlauch und der erste Kaffee aus klebrigen Bechern. Das Poltern der dicken Kette, wenn das Schiff irgendwo vor der Küste Asiens oder Afrikas Anker wirft. Und die stillen Minuten auf dem Schöpfeimer-Klo mit Blick durch ein Bullauge ins Blaue. Wie gern hat Axel am Kartentisch gestanden, um die Logbuch-Eintragungen zu machen für diese Reise, die niemals enden sollte. Und jetzt das große Finale, inmitten einer Armada von Traditionsseglern bei der Hanse Sail in Rostock. Riesenparty. "Aber Rotz und Wasser werd ich heulen, wenn ich das letzte Mal von Bord gehe."
Abfahren war für Axel Brümmer immer leichter als ankommen. Schon als kleiner Junge wollte er "Pirat" werden. Mit fünf lernte er das Segeln. Und gleich nach dem Mauerfall suchte der Erzieher und Hobbykletterer aus Saalfeld jemanden, der mit ihm um die Welt radeln wollte, "open end und sofort".
Mit dem Fahrrad hin, per Schiff zurück
"Schräge Idee", dachte damals Peter Glöckner, Traktorenschlosser aus einem Dorf bei Torgau. Zwei Tage später stand der Sachse mit hoch bepacktem Rucksack bei dem Thüringer vor der Haustür. Mit blauem DDR-Pass und jeweils 100 D-Mark Begrüßungsgeld zogen sie los. Fünf Jahre später, nach 80 000 Kilometern und unzähligen Jobs, mit denen sie sich durchschlugen, kehrten sie unter dem Jubel Tausender nach Saalfeld zurück. 1998 brachen sie zu einer zweijährigen Paddeltour durch den Dschungel des Amazonas auf. Dort keimte dann die Idee zum Projekt Marco Polo: Wäre es nicht spannend, auf den Spuren des venezianischen Entdeckers nach China zu reisen? Mit dem Fahrrad hin - und zurück über das Meer?
"So, nach Kina wollt's. Dann träumt's mal weiter!" Der dicke bayerische Polizist, der sie nach einer Nacht auf freiem Feld hochscheuchte, war der Erste, der Axel und Peter belächelte, als sie mitten im Winter 2001 über die Alpen losrollten. Aber nichts konnte die beiden stoppen auf ihrer Route, die sie wie Marco Polo zunächst nach Jerusalem führte. Auch die Kugeln von Milizionären nicht, die neben ihnen einschlugen, als sie auf der Suche nach einem Schlafplatz an der libanesischen Grenze in die Nähe einer versteckten Radarstation geraten waren.
Weder Wind, Wüste noch Virus hielt sie auf
Eine Grenzerfahrung ganz anderer Art erwartete die Globe-Treter, als sie auf der Seidenstraße in die chinesische Takla-Makan-Wüste eindrangen. Wind von vorn. 49 Grad Hitze. Auf Tage, an denen sie ihre Räder durch den Flugsand schieben mussten, folgten Nächte voller Halluzinationen. "Ich hatte noch nie solche Panik, dass wir nicht durchkommen", sagt Peter, heute 38. Sie schafften es - doch dann fing sich Axel ein Virus ein und musste mit dem Krankenwagen nach Peking transportiert werden. Zwei Tage später, und er wäre tot gewesen, sagte ihm dort ein kanadischer Arzt. Höchste Zeit für eine Erholungspause in Deutschland.
Danach wartete Teil 2 der Marco-Polo-Route auf Axel und Peter, die Seereise von Südostasien nach Europa. Sie wollten sie auf ähnliche Weise zurücklegen wie der mittelalterliche Reisende, der jahrelang am Hof des Mongolenherrschers Kublai Khan gelebt hatte. Doch wo war der Kahn für sie?
Mit der Dschunke drohte das Projekt abzusaufen
April 2002: Die beiden Abenteurer entdecken im indischen Goa eine heruntergekommene traditionelle Dschunke. Sie wird mit Geldern von Sponsoren angezahlt und muss erst abgedichtet werden, bevor Peter und vier Begleiter aufbrechen, um sie nach Südchina zu überführen. Dort soll vor gut 700 Jahren Marco Polo seine Seereise begonnen haben. Doch während der Überfahrt ändert ein Zyklon plötzlich seine Richtung. "Fette Windstärke 10", sagt Peter, "das Boot begann zu lecken, und eine Pumpe nach der anderen gab ihren Geist auf." Die Männer steigen in die Rettungsinsel, nach 16 Stunden fischt eine Tankercrew sie aus der aufgepeitschten See. Mit ihrem Schiff, das im Indischen Ozean versinkt, scheint das ganze Projekt abzusaufen. Doch als die Havaristen nach Deutschland zurückkehren, überrollt sie eine enorme Welle der Hilfsbereitschaft.
"Tausend kleine Leute aus Thüringen spendeten Geld, damit wir nicht aufgeben", sagt Axel, dem damals sogar eine Oma ihr Pflegegeld in die Hand gedrückt habe. Zusätzlich kratzen die Weltenbummler alles Geld zusammen, das sie inzwischen mit Diavorträgen und Büchern aus ihrem eigenen Verlag verdienen. So können sie ein Fischerboot kaufen, das Axels Vater auf der indonesischen Insel Timor für sie entdeckt hat. Der geräumige, 28 Meter lange Kahn, der zwischendurch als Basis für Taucher gedient hat, ist für 34.000 Dollar zu haben - angeblich besonders günstig, weil der Fluch von zwei Toten auf ihm liegt.
Als Maschine ein Busmotor
Den lassen die Deutschen von einer einheimischen Zauberin austreiben. Und dann zimmern rund hundert Insulaner auf Sulawesi monatelang neue, bis 15 Meter hohe Masten, weitere Aufbauten und Kajüten. Marinehistoriker helfen dabei, dass aus der alten indonesischen Pinisi eine Dschunke mit neu genähten Segeln wird. Damit sie in Wind und Wellen nicht allzu sehr schwankt, werden 25 Tonnen Flussgeröll in ihren Bauch gewuchtet. Als Maschine lassen die neuen Besitzer einen Busmotor einbauen, der von einem Schrottplatz in Java stammt.
Bei der Überführung nach China hilft ein befreundeter Skipper aus London, der die Hobbysegler aus Germany in die Navigation einweist und durch die Untiefen philippinischer Gewässer dirigiert. Im März 2004 läuft die "Kublai's Kahn II" schließlich unter vollen Segeln in Hongkong ein. "Wir haben alle zu Hause nachts aus den Betten telefoniert und stundenlang nur noch geschluchzt", sagt Axel, "ein unbeschreibliches Glücksgefühl."
Star der Kolonie
In der ehemaligen Kronkolonie ist die wohl letzte hochseefähige Dschunke der Welt schnell ein Star. Titelthema lokaler Zeitungen. Ehrengast im vornehmen "Aberdeen Boat Club", der die Abenteurer zu einem Empfang bittet. Ausflugsschiff für die "Royal Geographical Society", die damit eine Runde durch den Hafen dreht. Dann bunkern die Deutschen die letzten Vorräte im Schiffsbauch. An Bord hat sich eine bunte Crew zusammengefunden, die schließlich nur mit Muskelkraft die schweren Segel für den großen Törn ins Abendland hisst.
Da ist Abdul Haris, der Fischersohn aus Indonesien. Ein US-Marine und das kanadische Model, die in Hongkong angeheuert haben. Dazu ein Engländer von einem Segelschulschiff, der immer nur "Ay, ay, Sir!" zu den deutschen Kapitänen sagt. Dabei haben die weder ein Patent noch ein Radargerät. Aber Peter, der Bär mit den Riesenpranken, ist ein Techniker, der alles anpackt und richten kann. Und Axel der geborene Organisator. Beide zusammen schwören auf das Prinzip "Learning by doing". Mit Freunden, die aus der Heimat angereist sind, und Fremden, die in einem Hafen zu- und im anderen wieder aussteigen, formen sie einen Haufen nicht immer seefester Individualisten, die es sogar mit Piraten aufnehmen können.
Echte und falsche Piraten
Das zeigen sie schon vor der Küste von Vietnam, wo sich beim "Genuss-Segeln" mit achterlichem Wind und kalten Bierdosen ein Boot mit einem älteren Fischer nähert. "Der rief, er wollte seinen Fang verkaufen", sagt Axel. "Aber dann kam ein Haufen Jungs mit Kalaschnikows aus einer Luke hervor." Die Crew auf der Dschunke inszeniert eine wilde Show: Gewindebolzen werden wie Gewehrläufe über die Reling gelegt, Bambusstangen wie Flinten geschultert, Signalraketen wie Handgranaten bereitgehalten. Immer wieder rennt jemand unter Deck, um sich schnell umzuziehen und ein weiteres Besatzungsmitglied vorzutäuschen. Der Bluff hält bis zum Einbruch der Dunkelheit, als die "Kublai's Kahn II" alle Lichter löscht und in der Nacht verschwindet.
Andere Piraten sind durchaus willkommen. Während die Dschunke in Thailand ein halbes Jahr auf Passatwinde aus dem Osten warten muss, entern gefährliche Gestalten mit Schwertern den Viermaster. Die "Kublai's Kahn II" wird an ein Hollywood-Team verchartert, das Pappmasché-Kanonen an Bord bringt und einen Südseefilm dreht. Dringend benötigtes Geld, um das Schiff in Phuket aus dem Wasser zu holen, den Muschelbesatz abzukratzen und den Rumpf mit 500 Meter Baumwollflies abdichten zu lassen. Mit Hilfe von Lastelefanten werden neue Bambusstangen für Segellatten aus dem Dschungel geholt. Als die Dschunke auf der Werft wieder ins Wasser gelassen wird, knallen 500 Feuerwerkskörper, um böse Geister zu vertreiben. Lotusblüten am Bug sind eine Bitte um Glück.
Der Tsunami bleibt unbemerkt
Den 26. Dezember 2004 erlebt die Crew als unbeschwerten Segeltag auf dem Indischen Ozean; gerade erst hat sie Weihnachten gefeiert, mit einem geschmückten Besenstiel und roten Mützen. Niemand bemerkt, wie das Schiff mehrfach leicht angehoben wird: von den Tsunami-Wogen, die so weit von der Küste entfernt noch als flache, lang gestrecke Buckel den Ozean durchwalzen. Doch dann, beim täglichen Anruf der Freunde in Saalfeld, rufen die: "Ihr lebt noch!?" Die Segler erfahren von dem Seebeben, auch davon, dass 400 Boote vor Sri Lanka vermisst sind. Als die "Kublai's Kahn II" dort im Hafen von Galle einlaufen will, stößt sie nur noch auf Trümmer, Leichen und verängstigte Überlebende. Die Crew-Mitglieder plündern mit Kreditkarten ihre Konten, starten einen Spendenaufruf in Saalfeld und mieten drei Lastwagen in Colombo. Hilfsgüter für 40 000 Euro werden so in das Tamilengebiet im Nordosten der Insel transportiert und an 2000 Familien verteilt.
Nach mehreren Wochen auf See erreicht die "Kublai's Kahn II" die Arabische Halbinsel. Bei der Einfahrt ins Rote Meer erwischt sie ein Sturm von vorn, der Wellen von sieben Metern Höhe über das Deck peitscht. Der Bug taucht immer wieder tief ein, das Schiff schluckt Wasser und wird trotz laufenden Motors rückwärts geschoben. Im Suez-Kanal, mitten zwischen Container-Riesen, gibt die Maschine zeitweise ihren Geist auf, was die ägyptischen Lotsen in Panik versetzt, nicht aber die Weltenbummler. Ohne größere Zwischenfälle durchkreuzen sie östliches Mittelmeer und Adria - und dann liegt die Heimatstadt Marco Polos vor ihnen: Venedig.
Wie einen Schwerlaster ohne Servo lenken
Jetzt muss Peter nur noch die Dschunke unfallfrei durch die engen Fahrrinnen der Lagunenstadt steuern, obwohl sie sich lenkt wie ein Schwerlaster ohne Servo. "Mehr links! Jetzt mehr rechts!": Mit wenig nautisch klingenden Kommandos dirigiert er den Viermaster mit der Höchstgeschwindigkeit von acht Knoten am Lido vorbei im Slalom durch Kanäle, in denen Fähren, Gondeln und Ausflugsboote kreuzen. Die Höllenfahrt endet wie durch ein Wunder nicht mit dem Crash am Kai des Markusplatzes. Sondern mit einer sauberen Halse und dem johlenden Empfang der Freundesschar aus Saalfeld. Didi hat seine Klampfe und seinen selbst komponierten "Dschunkensong" mitgebracht, der wie ein Mantra gegrölt wird.
Auch für die letzte Etappe nach Deutschland steigen neue Leute an Bord. Die ständig wechselnde Crew, sagt Axel, "war das eigentliche Highlight dieser Tour". Im Laufe der über zweijährigen Seereise sind es mehr als hundert Leute aus 19 Nationen gewesen, die sich Küchen- und Wachdienste teilten. Aussteiger, die zu Einsteigern wurden. Das Schweizer Pärchen etwa, das seine Jobs schmiss, in die Transsibirische Eisenbahn stieg und sich mit einem Pferde-Treck bis an die thailändische Küste durchschlug. Die 37-jährige Luize, früher Kinderkrankenschwester auf einer Stuttgarter Krebsstation. Der 47-jährige Jürgen aus dem Elbsandsteingebirge, der seine Arbeit im Umweltamt aufgab. Mal war ein russischer Yoga-Lehrer an Bord, mal eine französische Rocksängerin - nie zahlende Gäste, sondern eine schwimmende Kommune. "Alle haben eine eigene Geschichte", sagt Axel, "und alle wollten in ihrem Leben noch mal was Neues probieren."
Das werden auch Axel Brümmer und Peter Glöckner. Das Paar, das nach eigenen Worten "seit 16 Jahren verheiratet ist" - platonisch allerdings -, wird jetzt wieder eine Weile von Vorträgen leben. Von Büchern, in denen sie ihre Abenteuer schildern. "Und von der Kunst, nichts auszugeben", wie Peter das nennt. Das Einzige, was beide ausreichend haben, ist Zeit. "Die hat eigentlich jeder - aber wir nehmen sie uns einfach", sagt Axel. Und was wird aus der "Kublai's Kahn II"? "Wir wollen, dass sie irgendwo gut unterkommt, denn sie hat eine Seele", sagt er lächelnd, während er liebevoll über das ausgebleichte Holz streicht. Nach rund 20 000 Seemeilen sind die Dschunke und ihre Mannschaft angekommen.
Die Verrückten aus Saalfeld noch lange nicht.