So ein 5:2 gegen Italien, das will man sich natürlich nicht klein reden lassen. Endlich ein Sieg gegen einen Großen des Weltfußballs, endlich überhaupt wieder gewonnen. 1:1 schien ja schon zum Standard-Ergebnis für das DFB-Team zu werden (vier Mal in Folge zuletzt). Da ging sogar Manuel Neuer nonchalant, wenn auch mit gequältem Lächeln, über die beiden Gegentore in den letzten 20 Minuten hinweg. Und Nationalcoach Hansi Flick wollte vor den TV-Mikrofonen die Defizite "heute mal" nicht so ausbreiten. Hauptmaxime: Das "Supergefühl" (Flick) in die Sommerpause mitnehmen – und im Herbst bis zur Winter-WM in Katar weiter feilen an einer konkurrenzfähigen Truppe.
Die vier Nations-League-Spiele in elf Tagen sollten eine Standortbestimmung für "die Mannschaft" werden. So ist es auch gekommen. Fünf Erkenntnisse aus dem Quasi-Turnier der vergangenen Tage:
Die anderen haben auch Probleme
Zu einer Standortbestimmung gehört auch der Blick auf die Konkurrenz. Und da sieht es gar nicht mal so schlecht aus. Vor allem in England schrillen nach dem 0:4 gegen Ungarn die Alarmglocken. Eine der höchsten Heimniederlagen in der Geschichte der "Three Lions", kein Sieg nach vier Spielen, "das kann man nicht mehr als bedeutungslos abtun", kommentierte der "Independent" das bisherige Abschneiden des EM-Finalisten in der Nations League. Der Wettbewerb wird auch in seiner dritten Auflage nicht für voll genommen, aber: 0:4 gegen Ungarn?
Auch der Titelverteidiger Frankreich steht schlecht da. Letzter in seiner Gruppe, kein Sieg, zwei Heimniederlagen (1:2 gegen Dänemark, 0:1 gegen Kroatien), eines Weltmeisters unwürdig. WM-Finalist Kroatien unterlag zu Hause Österreich mit 0:3 (!), um dann in Frankreich 1:0 zu gewinnen. Belgien war immerhin in der Lage, sich für das desaströse 1:4 gegen die Niederlande mit einem 6:1 gegen Polen zu rehabilitieren. Und die Spanier – Gruppengegner der Deutschen in Katar – starteten mit zwei Remis mau, haben sich inzwischen aber zu zwei ihrer üblichen Minimalisten-Siege durchgerungen. Natürlich: Alle potenziellen WM-Favoriten haben neue Spieler getestet und sind ansonsten vor allem eines: ausgelaugt nach einer langen Saison. Bei der WM werden vor allem Frankreich und England wieder ein anderes Gesicht zeigen. Trotzdem machen die Ergebnisse deutlich: Die deutsche Mannschaft ist mit ihren Problemen nicht allein, und steht speziell nach dem Sieg gegen Italien sogar vergleichsweise gut da. Entscheidend ist dann aber "aufm Platz" bei der WM.
In diesen Stadien wird die Europameisterschaft ausgetragen

DFB-Team – (fast) alles scheint möglich
Das klingt verheißungsvoll, ist es aber bei Licht betrachtet nicht. Manuel Neuers Zielsetzung, in Katar Weltmeister werden zu wollen, ist eher dem "think big" der Sportler geschuldet: Große Ziele setzen, um auf jeden Fall ein respektables Ergebnis zu erreichen. Bei Duellen gegen WM-taugliche Gegner ist Flicks Truppe aber nach wie vor eine Wundertüte. "Wir haben alles, um an einem guten Tag jeden schlagen zu können", stellte Thomas Müller nach dem Italien-Sieg fest. Aber eben auch alles, um an einem normalen Tag gegen respektable und motivierte Gegner wie Ungarn verlieren zu können (das 1:1 in Budapest war eher glücklich). Und es fehlt, so der Bayern-Star, an den "fußballschlauen Dingen" im Spiel. ZDF-Experte Per Mertesacker bezeichnete die WM-Vorrundengruppe mit Spanien, Japan und Costa Rica dementsprechend als "Herausforderung für die deutsche Mannschaft". Es braucht wohl ein paar gute Tage am Persischen Golf – und den Glauben an den Mythos, eine "Turniermannschaft" zu sein.
Die Konzentration reicht meist nicht für 90 Minuten
"Wenn wir es so machen (wie gegen Italien), dann werden es ganz, ganz viele Mannschaften schwer gegen uns haben", resümierte İlkay Gündoğan nach dem 5:2 von Mönchenglabdach. Das kann durchaus sein, aber Mannschaften, die es anderen schwer machen, gehören erfahrungsgemäß nicht zu jenen, die mit letzter Konsequenz auch Siege und Titel holen. "[Wir haben], so ehrlich muss man sein, noch allerhand Defizite, um von einer perfekten Mannschaft, von Souveränität und von einer 'Uns kann keiner schlagen'-Mentalität zu sprechen", brachte es einmal mehr Thomas Müller auf den Punkt. Selbst beim Rekordsieg gegen Italien war das zu sehen: Die Azzurri waren nach der Pause drauf und dran, den Deutschen den Schneid abzukaufen, Müllers 3:0 in dieser Phase gehörte zu jenen Toren, von denen Fußballer hinterher sagen, dass sie zum richtigen Zeitpunkt gefallen sind. Und nach dem 5:0 stellte die Mannschaft praktisch das Spiel ein – und ließ noch zwei Gegentore zu. Das machte am Dienstag nichts aus, aber den Minen der DFB-Spieler war anzusehen, dass sie wissen, dass sie auf diese Weise nicht weit kommen werden. Dass die Truppe (bisher) Konzentration und Spannkraft offenbar nicht über 90 Minuten halten und Erholungsphasen nicht selbst kontrolliert einstreuen kann, kostete sie gegen Italien und England den Sieg und hätte in Ungarn leicht eine Niederlage zur Folge haben können. So wird man nicht Weltmeister, dennoch: "Wir haben ein gutes Projekt am Laufen", ist sich Thomas Müller sicher.

Vorne und hinten drückt der Schuh
Noch viel besser liefe das Projekt, wenn eine Fußballmannschaft nur aus Mittelfeldspielern und Torhütern bestünde. Im Tor ist Manuel Neuer seit Ewigkeiten ein Gigant. Und dahinter folgen mit Barca-Keeper Marc-André ter Stegen und Frankfurts Europa-League-Sieger Kevin Trapp weitere Top-Leute. Im Mittelfeld herrscht regelrecht Gedränge: Kimmich, Gündoğan, Goretzka, Hofmann, Müller, Musiala, dazu noch die Verletzten Reus und Wirtz – das ist auch international eine Spitzenbesetzung. Anders sieht das aber in Abwehr und Sturm aus.
Vor allem in der Spitze fehlt der klassische Stoßstürmer und Torgarant. Spielerisch können die Havertz, Gnabry, Sané, Werner und Co. das Manko mit ihren Toren sicherlich ausgleichen, doch allzu oft fehlt es an Gier und Durchschlagskraft. Und das Herumreißen eines engen Spiels, notfalls mit der berühmten "Brechstange", was bei jedem großen Turnier mal nötig ist, dazu fehlen schlicht die Mittel.
Und hinten? In der Abwehr sieht es ähnlich aus. Sicher: Neu-Madrilene Rüdiger hat das Zeug zum "Turm in der Schlacht", aber auch dazu, sich mit einer unnötigen gelben Karte just aus den entscheidenden Spiele zu bugsieren. Süle spielte zuletzt nicht wirklich konstant, und Englands Harry Kane hat offen gelegt, was passiert, wenn ein international spielender, abgezockter Profi auf einen talentierten Verteidiger wie Nico Schlotterbeck trifft. Der allerdings könnte in seinem ersten halben Jahr in Dortmund, das nun ansteht, bis zur WM noch dazu lernen. Auf den Außenbahnen machen Raum, Gosens oder Klostermann viel Druck nach vorne; dass sie hinten gegen Top-Stürmer "dicht" halten können, das müssen sie erst noch beweisen. Mindestens ein Tor musste die deutsche Mannschaft zuletzt trotz ihres Ausnahmekeepers immer schlucken. Meisterschaften aber, so eine Binsenweisheit des Fußballs, gewinnt man in der Defensive.
Die Achse steht und wackelt
Gut an dem Projekt, das die Nationalmannschaft "am Laufen" hat, ist, dass Hansi Flick offenbar seine Achse für das Weltturnier schon gefunden hat. Dazu gehört natürlich Manuel Neuer, immer noch der beste Torhüter der Welt, der in der Lage ist, so manche Schwäche seiner Vorderleute auszubügeln. Das wird er in Katar brauchen. In der Abwehr ist Antonio Rüdiger gesetzt. Der Hüne hat sich als größter Stabilisator seinen Platz gesichert – groß, durchsetzungsfähig, schnell, aber manchmal auch zu ungestüm und (für Schiedsrichter) zu redegewandt.
Im Mittelfeld gesetzt ist Joshua Kimmich – als Abräumer, Spielgestalter und Gelegenheits-Torschütze so etwas wie das Herz der Truppe. Doch wehe, wenn er sich verletzt oder anderweitig ausfällt. Er ist kaum zu ersetzen, jedenfalls nicht, so lange İlkay Gündoğan weiterhin seine im Verein gezeigte Klasse im schwarz-weißen Dress nicht vollends auf den Platz bekommt. Dazu kommt im offensiveren Part Thomas Müller – auch er als Kommunikator, Ballverteiler und Torschütze nicht zu ersetzen. Im Sturm soll es dann Timo Werner richten. Die Nibelungentreue Flicks zu dem seit langer Zeit glücklosen Stürmer ist für viele unverständlich. Flick imponiert vor allem, dass der Mann vom FC Chelsea, der einen fatalen Hang dazu hat, im Abseits zu stehen, für das Team arbeitet. Das ist in der Tat hilfreich, genügt aber für die allerhöchsten Ansprüche nicht. Ganz vorne wackelt Flicks Achse enorm – und ein Lewandowski oder Haaland mit deutschem Pass ist nirgendwo in Sicht. Vielleicht muss es daher letzten Endes Müller richten, indem er weiter nach vorne rückt.