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Die deutschen EM-Momente Wembley-Elf '72 - einfach magisch

stern.de erinnert vor der EM in Österreich und der Schweiz in einer Serie an die magischen Momente der deutschen EM-Geschichte. Den Anfang macht ein Spiel, in dem die "beste deutsche Mannschaft aller Zeiten" ihre legendäre Geburtsstunde feierte.
Von Nico Stankewitz

Es ist ein legendärer Jahrgang in der Geschichte der deutschen Fußballnationalmannschaften, diese Elf von 72. Und es ist ein wirklich hell strahlendes Kapitel, denn wie niemals vorher oder nachher verzauberten die deutschen Spieler die Fußballwelt, spielten nicht „nur“ erfolgreich, sondern begeisterten auch mit schwungvollem Kombinationsfußball. So wurden bei der Endrunde (damals nur Halbfinale und Finale) Gastgeber Belgien in Antwerpen mit 2:1 und im Finale die UDSSR gar mit 3:0 deklassiert.

Die eigentliche Geburtsstunde dieser Mannschaft schlug aber bereits zwei Monate vor dem Finale von Brüssel, im Londoner Wembley-Stadion. Nie zuvor hatte Deutschland auf englischem Boden gewinnen können, ausgerechnet das Viertelfinal-Hinspiel am 29. April 1972 sollte diesen Bann brechen. Deutschland spielte in den damaligen grünen Ausweichtrikots und trat mit einer stark verjüngten Mannschaft an, die nicht ganz freiwillig zustande gekommen war: Bundestrainer Helmut Schön hatte zwar auf etablierte Routiniers wie Klaus Fichtel, „Stan“ Libuda oder Wolfgang Weber freiwillig verzichtet, aber mit dem Kölner Kapitän Wolfgang Overath und dem Gladbacher Berti Vogts fehlten auch zwei Stammkräfte aufgrund von Verletzungen.

Netzer oder Overath? Netzer!

In die Anfangsformation rückten deshalb zwei „junge Wilde“, Außenverteidiger Paul Breitner und der offensive Außenbahnspieler Uli Hoeneß, beide von Bayern München. Auch deswegen gab es – ähnlich wie zwei Jahre später bei der WM im eigenen Land – immer wieder Gerüchte, der neue Kapitän Franz Beckenbauer hätte bei der Mannschaftsaufstellung ein kräftiges Wörtchen mitgeredet.

Wichtiger war aber wohl insbesondere, dass durch den Ausfall von Overath der Gladbacher Günther Netzer die Alleinherrschaft im Mittelfeld übernahm und hier nach Belieben die Fäden ziehen konnte. Nach dem Luxusproblem der beiden Mittelstürmer Gerd Müller und Uwe Seeler bei der WM 1970, hatte sich die Frage „Netzer oder Overath?“ zur meistdiskutierten Personalie an deutschen Stammtischen entwickelt, mit beiden gemeinsam funktionierte es nicht, beide besaßen aber außerordentliche Qualitäten.

Wembley – der erste Sieg

Mit beiden konnte sehr erfolgreicher Fußball gespielt werden, aber der Stil der Nationalmannschaft änderte sich stark: Mit Overath spielte Deutschland ökonomischer, mit Netzer war immer Spektakel auf dem Platz, geniale Pässe und überraschende Aktionen. Die Pässe Netzers gepaart mit dem Offensivdrang Beckenbauers und dem Torriecher, der Gerd Müller zum besten Mittelstürmer aller Zeiten machen sollte – das machte diese Elf aus, die im Jahr 1972 der absolute Maßstab im europäischen Fußball sein sollte.

Der 29. April war selbst nach englischen Maßstäben ein regnerischer Tag, der Platz war triefend nass und auch während der Partie erlebten die 100.000 Fans im ehrwürdigen Wembley-Stadion immer wieder Regengüsse. Nach hektischen Anfangsminuten übernahm die offensiv auftretende deutsche Mannschaft das Kommando und kam durch Grabowski, Netzer und Müller zu einigen Torchancen. Insbesondere das bewegliche Mittelfeld mit dem auf beiden Flügeln auftauchenden Hoeneß und dem glänzenden Gladbacher „Hacki“ Wimmer war von den Engländern nie zu stoppen. So fiel auch das Führungstor in der 27. Minute, als Hoeneß in halblinker Position an der Strafraumkante zum Schuss kam.

Glanztag vom Maiers Sepp

Wütende Gegenangriffe der englischen Mannschaft um Bobby Moore waren die Folge, aber Sepp Maier hatte ebenfalls einen glänzenden Tag zwischen den deutschen Pfosten erwischt und klärte einige Male sicher. Bei aller Kampfkraft der Engländer wurde die spielerische Überlegenheit der Gäste nun aber noch deutlicher, denn die Angriffe der Engländer wurden mit eleganten Gegenangriffen beantwortet, für die „Konter“ aber dennoch das falsche Wort wäre, denn es tauchten immer wieder vier, fünf, sechs Mann am englischen Strafraum auf. Man wartete die ganze Halbzeit nur auf ein weiteres deutsches Tor, ein elfmeterreifes Foul von Madeley an Gerd Müller wurde vom Unparteiischen nicht geahndet, aber überraschenderweise gelang den Engländern in der 76. Minute der unverdiente aber glückliche Ausgleich.

Zunächst wurde Wimmer von Ball gefoult, was der französische Schiedsrichter Robert Helies überraschenderweise als einziger im Stadion übersah, dann reagierte Colin Bell am schnellsten und schoss nach einem Doppelpass mit Peters, Maier konnte nur mit Mühe abwehren und Francis Lee drückte den Abpraller über die Linie – der Ausgleich.

Geburtsstunde einer großen Elf

Nur sieben Minuten dauerte es, bis Deutschland sich erholt hatte, Held setzte sich gegen Moore durch, drang vom linken Flügel in den Strafraum ein und wurde vom englischen Kapitän mit einer Grätsche gestoppt. Den fälligen Elfmeter verwandelte Günter Netzer glücklich, denn Torhüter Gordon Banks lenkte den Ball gegen den Pfosten, von dem er ins Tor prallte.

Und Deutschland setzte noch ein Ausrufezeichen, als Gerd Müller in Weltklassemanier einen Pass von Hoeneß verarbeitete und zwei Minuten vor Spielende zum 3:1 einschoss. Der historische Sieg war perfekt und man sah überraschend viele deutsche Fahnen in Wembley. Helmut Schön sprach später euphorisiert von der „besten Leistung einer deutschen Nationalmannschaft überhaupt“ und die Presse im In- und Ausland schwärmte und zollte Respekt. Zwar wurde der Titel erst drei Spiele später gewonnen, aber hier war die „Wembley-Elf“ schon auf dem Höhepunkt.

Es war die Geburtsstunde einer legendären Mannschaft, die sich zwei Monate später mit dem Europameistertitel belohnte. Diese Elf tanzte nur in diesem Sommer und verbreitete progressiven Glanz wie es nie zuvor und nie danach einer deutschen Nationalmannschaft gelang. Nicht so überraschend dann auch die Wahl zu Europas Fußballer des Jahres 1972: Franz Beckenbauer gewann vor Gerd Müller und Günter Netzer.

Die „Wembley-Elf“:

Sepp Maier, Horst-Dieter Höttges, Franz Beckenbauer, Georg Schwarzenbeck, Paul Breitner, Josef Wimmer, Günther Netzer, Uli Hoeneß, Jürgen Grabowski, Gerd Müller, Siegfried Held.

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