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Russland Das Abenteuer geht weiter

Selbstbewusst treten sie auf, die Helden von Basel. In einer mitreißenden Partie hatte die junge russische Mannschaft die favorisierten Holländer aus dem Turnier gekegelt. Jetzt werden noch höhere Ziele ausgegeben: Die Russen wollen den Titel - und neben Guus Hiddink hält das auch ein anderer Holländer für möglich.
Von Oliver Trust, Basel

Als draußen vor dem St. Jakob Park der Trauermarsch längst eingesetzt hatte und sich Menschenmassen in Orange wie in Trance in die laue Basler Sommernacht hinausschoben, trat auch Marco van Basten zu einem schweren Gang an.

Jeder versuchte auf seine Art das niederländische Trauma zu verarbeiten, wieder einmal bei einem bedeutenden Turnier ausgeschieden zu sein. 1988 wurden sie Europameister, vor 20 Jahren. Spät in dieser besonderen EM-Nacht, die mit dem 3:1-Sieg der Russen über den großen Favoriten Niederlande eine Sensation gebracht hatte, lief der Bondscoach in die Kabine der Russen und gratulierte den Siegern.

Die waren schwer beeindruckt. "Das zeigt, er ist ein großer Mann", sagte Igor Semschow. Immer noch schienen sie gehörigen Respekt vor den klangvollen Namen ihrer Gegner zu haben, die sie gerade über 120 Minuten durch Tore von Roman Pawljutschenko (56.), Ruud van Nistelrooy (87.), Dmitri Torbinski (112.) und Andrej Arschawin (116.) bis zum Ende der Verlängerung regelrecht vorgeführt hatten. Als seien sie darauf bedacht, nicht noch mehr Schaden anzurichten, traten die Sieger in der Interviewzone fast demutsvoll zur Seite, als die in der Vorrunde so gefeierten und nun völlig fassungslosen Niederländer den kürzesten Weg zu ihrem Bus suchten.

Tränen in den Katakomben

Schlüssige Erklärungen für die Ereignisse konnte kaum einer liefern, und so reiste die Oranje-Karawane am Tag danach davon, ohne in Lausanne eine abschließende Pressekonferenz zu geben.

Der Holländische Pressechef Kees Jansma verabschiedete sich weit nach Mitternacht in den Katakomben der Basler Arena von niederländischen Journalisten und musste getröstet werden, er weinte bittere Tränen.

Der Rest der Mannschaft trat den Weg in die Ferien mit betretenem Gesichtsausdruck an. "Die waren fitter und hatten mehr Kraft", sagte Joris Mathijsen vom HSV und zuckte mit den Schultern.

Sein Teamkollege Rafael van der Vaart, der sich so kaum für einen Wechsel zu einem bedeutenden Klub empfehlen konnte, meinte: "Der Traum ist vorbei. Wenn man so spielt, verliert man gegen diese Russen". Die stolzen Fußballkünstler aus den Niederlanden, die Heroen der Vorrunde, heute waren sie ein Team der Ratlosen.

"So kann Russland Europameister werden"

Nun wird sich Marco van Basten unangenehme Fragen gefallen lassen müssen, weil andere Erklärungen schwer fallen. Wie gelähmt schien sein Team, dem nie ein Gegenmittel einfiel, und er stand draußen und schaute ohnmächtig zu.

"Wir haben darauf gewartet, dass sie kommen und aggressiv spielen", meinte Russlands Star Andrei Arshawin. "Aber sie kamen nicht". Nun wird der ehemalige Dortmunder Bert van Marwijk den großen Scherbenhaufen zusammenkehren müssen. "Wir haben in der Vorrunde überragend gespielt, aber wir sind jetzt draußen, so einfach ist Fußball. Von mir aus können die jetzt gewinnen", sagte Van der Vaart. "So kann Russland Europameister werden", meinte van Basten.

"Oranje war zu früh in Topform"

Die Taktikkünstler der EM, die Angriffsmaschine in Orange, die die "Todesgruppe" aus Italien, Frankreich und Rumänien mit Auszeichnung beherrscht hatte, war offenbar zu früh in Topform gewesen und hatte nach den Höhepunkten in der Gruppe nichts mehr zu bieten.

Ganz im Gegensatz zu den Russen, die vor Stolz zu platzen schienen. "Der bessere Holländer, nämlich unser Trainer, hat gewonnen", sagte Arschawin. Wie groß das neue Selbstvertrauen ist, zeigt der Umstand, dass der russische Verband das Trainingslager im österreichischen Leogang nun bis zum Finale gebucht hat. "Der Prozess geht weiter. Diese Mannschaft hat in kurzer Zeit sehr viel gelernt, sie ist sehr trainierbar. Wir waren heute technisch, taktisch und physisch besser als Holland", sagte Russlands niederländischer Coach Guus Hiddink, und seine Aussage klang im Hinblick auf das Halbfinale gegen den Sieger der Partie Italien - Spanien wie eine Drohung an den Rest Europas.

Die physische Leistung beeindruckte

Beeindruckend vor allem die physische Leistungsfähigkeit der Gewinner, die selbst in der 120. Minute noch in der Lage waren, lange Sprints anzusetzen. Und so rückte auch Hiddinks Fitnesstrainer Raymond Verheijen in den Mittelpunkt der Diskussion. Schon 2002, als das Duo Südkorea bis ins Halbfinale der WM führte, hatte die ausdauernde Leistungsfähigkeit der Koreaner für Aufsehen gesorgt. Es tauchten Gerüchte auf, es sei möglicherweise nicht mit rechten Dingen zugegangen, was allerdings nie beweisen werden konnte.

"Die Niederlande müssen sich diese Frage nun stellen, warum sie es nicht geschafft haben. Wir haben ähnliche Erfolge in kurzer Zeit schon in Südkorea erlebt. Es ist eine wichtige Erkenntnis des Fußballs, dass ab der 90. Minute die Physis besonders wichtig wird. Nach diesem Viertelfinale wird nun jeder genau darüber reden", so Hiddinks Fitnesscoach.

Während die Holländer eine gute Woche hatten, um sich zu erholen, musste Russland nach nur drei Tagen wieder antreten. "Das war eine unglaubliche Leistung, die ganz Russland und seinem Fußball einen enormen Auftrieb geben wird", meinte Hiddink, der erstmals in seiner Karriere bei einem Turnier gegen sein Heimatland spielte und gewann.

Aufschwung dank der Petrodollars

Der Sieg passt zum Aufwärtstrend des russischen Fußballs, der nun auch mit dem Nationalteam von den Investitionen in der heimischen Liga profitiert, die mächtige Männer mit ihren Petrodollars unternommen haben.

Der Milliardär Roman Abramovic (Klubeigner des FC Chelsea) hatte Hiddink eingekauft, um den Neuaufbau zu starten. "Wir haben in Guus Hiddink einen Supertrainer. Er sagt uns immer, dass wir gegen jeden Gegner gewinnen können. In Russland sind jetzt bestimmt alle draußen und feiern", lobte der Nürnberger Ivan Saenko.

"Egal, gegen wen wir nun kommen, jetzt ist unser Selbstvertrauen so groß, dass wir dieses Turnier gewinnen können", sagte Dinijar Biljaletdinow. Das, so berichteten sie stolz, habe ihnen schließlich auch Marco van Basten bei seinem Besuch in der Kabine gesagt.

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