"Kalter Kaffee" sei das, hat Jogi Löw gesagt, "es gibt kein Italien-Trauma". Und doch wird, seit klar ist, dass die DFB-Elf heute in Bordeaux auf Italien trifft (21 Uhr/live im stern-Ticker), ständig darüber geredet. Bisher hat es eben keine deutsche Nationalmannschaft geschafft, bei einem großen Turnier die Italiener zu schlagen.
Auch unter Löw nicht. Im Gegenteil: Das 1:2 gegen die Squadra Azzurra im EM-Halbfinale 2012 hat den späteren Weltmeistercoach seinerzeit tief getroffen und ins Wanken gebracht, wie er dem stern vor der EM verriet. Die berühmte Szene, in der sich Mario Balotelli nach seinem zweiten Treffer mit freiem Oberkörper als Sieger inszeniert, ist als Horror-Höhepunkt in Fußball-Albträumen ja auch wirklich bestens geeignet.
Hoffnungsschimmer EM 1996
Also: Wirklich kalter Kaffee? Man muss sich das mal vor Augen führen: Mit vier Weltmeister- und drei Europameister-Titeln gehört die deutsche Nationalmannschaft zu den erfolgreichsten Teams der Welt. Und doch haben all' diese vielen Titel einen kleinen Makel: Nie ging der Gewinn eines Pokals über ein K.o.-Spiel gegen den wohl größten europäischen Rivalen. Immer, wenn es etwas zu feiern gab, hatte jemand freundlicherweise die Azzurri aus dem Weg geräumt. Diesmal schafften das noch nicht mal die Spanier.
Doch immerhin: Keine Regel ohne Ausnahme, die Hoffnung macht. Während der EM 1996 in England, die bekanntlich Oliver Bierhoff mit dem Golden Goal im Finale für Deutschland entschied, waren die DFB-Auswahl und die Italiener zuvor aufeinandergetroffen - allerdings in einem Gruppenspiel, das 0:0 endete. Kein K.o.-Match, aber Italien war danach raus aus dem Turnier und der Weg zum Titel frei.
Italien: Die zweite große Prüfung
Deutschland - Italien bei WM und EM
WM 1962, Chile:
0-0 in der Vorrundengruppe
WM 1970, Mexiko:
3-4 nach Verlängerung im Halbfinale
WM 1978, Argentinien:
0-0 im Gruppenspiel der 2. Finalrunde
WM 1982, Spanien:
1-3 im Finale
EM 1988, Deutschland:
1-1 im Gruppenspiel
EM 1996, England:
0-0 im Gruppenspiel
WM 2006, Deutschland:
0-2 nach Verlängerung im Halbfinale
EM 2012, Polen/Ukraine:
0-2 im Halbfinale
Soviel zur Vergangenheit. In der Gegenwart, und daran sei doch angesichts der ganzen Diskutiererei an dieser Stelle mal erinnert, ist Deutschland amtierender Fußball-Weltmeister. Also: Wenn nicht jetzt, wann dann soll das Italien-Trauma überwunden werden? Zumal Jogi Löws Mannschaft den zweiten großen Makel deutscher Titel während der letzten WM eindrucksvoll beseitigte: Auch mit Brasilien musste man sich auf den großen Turnieren entweder nicht messen oder ging als Verlierer vom Platz (wenn auch nur einmal). Mit dem 7:1 gegen die Selecao im Halbfinale wurde dieser Fluch regelrecht vom Platz gefegt. Nach diesem grandiosen Spiel wirkte der WM-Titel fast wie die logische Folge.
Das Aufeinandertreffen der beiden erfolgreichsten Fußballnationen Europas an diesem Abend ist somit die zweite große Meisterprüfung für Jogi Löw. 2012 hat er sich vercoacht, 2016 soll der Italien-Fluch kalter Kaffee sein. Gut möglich, dass ein Weiterkommen gegen die Azzurri ähnlich wie in Brasilien den Weg zum Titel freimacht. Erfolgreicher als Löw könnte danach ein Nationaltrainer kaum mehr werden. Darauf einen "frischen Espresso".
