Toni Kroos macht alles perfekt, so scheint es. Am Samstagabend gewann der 34-Jährige im Finale von London gegen Borussia Dortmund seinen sechsten Champions-League-Titel. Niemand reckte den berühmten Henkelpott häufiger in die Höhe als er, seine Teamkollegen Luka Modric, Nacho Fernandez und Dani Carvajal sowie der frühere Real-Star Francisco Gento. Es war gleichzeitig seine letzte Partie für Real Madrid, für das er zehn Jahre spielte. In dieser Zeit sammelte er 24 Titel, insgesamt sind es 34.
Für Kroos steht noch die Europameisterschaft in Deutschland an, dann ist endgültig Schluss. Man darf feststellen: Kroos' Timing beim Abgang ist so genial wie das Timing seines Passspiels. Er wird nach der EM auf dem Höhepunkt seiner Karriere abtreten. Dann endet nach 17 Jahren eine Profi-Laufbahn, die eine der größten im deutschen Fußball darstellt, ganz unabhängig davon, ob er der beeindruckenden Titelsammlung den Gewinn des EM-Titels hinzufügt oder nicht.
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Ein großer Fußballer definiert sich nicht nur über die Zahl der Titel
Es bleibt die Frage, wo man Toni Kroos in der Riege der größten deutschen Fußballer einordnet. Steht er auf einer Stufe etwa mit Fritz Walter, Franz Beckenbauer oder Lothar Matthäus? Nimmt man nur die Anzahl der Titel, kommt man bei der Beantwortung der Frage nicht weiter. Fritz Walter hat lediglich fünf Titel gewonnen, unter anderem war er mit dem 1. FC Kaiserslautern zweimal deutscher Meister und zweimal französischer Zonenmeister.
Es waren andere Zeiten. Die europäischen Pokalwettbewerbe existierten nicht oder begannen gerade erst, es gab keine nationalen oder internationalen Supercups oder gar eine Klub-WM (allein in diesem Wettbewerb hat Kroos sechs seiner insgesamt 34 Titel geholt). Walter wurde zu einem deutschen Helden, weil er die Nationalelf als Kapitän 1954 zum ersten WM-Titel führte und zum festen Bestandteil des Gründungsmythos' der BRD wurde. Walter war eben nicht nur ein talentierter Fußballer, sondern hatte Persönlichkeit und verkörperte ein Idealbild der Zeit.
Gleiches gilt für den kürzlich verstorbenen Beckenbauer, der sämtliche großen Titel gewann. Er war Europameister, beherrschte mit dem FC Bayern Mitte der siebziger Jahre den Pokal der Landesmeister und wurde als Spieler und Trainer Weltmeister. 2006 organisierte Beckenbauer das Sommermärchen. Beckenbauer ist neben Walter die größte Lichtgestalt des deutschen Fußballs. Auch Lothar Matthäus reiht sich mit etwas Abstand in diese Riege ein. Der Franke ist bislang der einzige Deutsche, der jemals zum Weltfußballer gewählt wurde. Das war 1991, vorher hatte Matthäus, der in dieser Zeit für Inter Mailand spielte, Deutschland als Kapitän zum WM-Titel 1990 geführt. Die Champions League gewann der heutige TV-Experte Matthäus nie.
Karriere mit perfektem Schlussakkord
Und jetzt Kroos. Der gebürtige Greifswalder besticht durch die Dauer seiner Karriere, seine imposante Titelsammlung, seine Konstanz auf höchstem Niveau. Er gehört zu den Großen, weil es auch darauf ankommt, wie man auftritt. Charisma verbunden mit einer gewissen Kantigkeit (siehe das entgleiste ZDF-Interview) trägt dazu bei. Seine Karriere kam ganz ohne Skandale aus und endete mit einem perfekten Schlussakkord im Londoner Wembley-Stadion, der noch nicht ausgeklungen ist, siehe EM. Wer sich bewusst machen will, welchen Status der Norddeutsche in Madrid genießt, muss sich nur die Bilder vom Abschied im Bernabeu-Stadion in der vergangenen Woche anschauen. Die Fans des größten und erfolgreichsten Klubs der Welt feierten ihn wie lange niemanden mehr. Selbst der Abschied von Cristiano Ronaldo war nicht so groß und emotional. "Danke, Legende" war auf einem riesigen Banner im Stadion zu lesen. Bei Real wussten sie sehr viel früher, was für ein außergewöhnlicher Fußballer Kroos ist.
Er ist vermutlich der brillanteste Passspieler, den die Welt je gesehen hat. Die "Süddeutsche Zeitung" rechnete vor, dass Kroos Passgenauigkeit in den vergangenen zehn Jahren nie unter 92 Prozent lag. In den vergangenen beiden Jahren waren es sogar jeweils über 95 Prozent. Das ist quasi Genie-Status. Kroos legte sich in den späteren Jahren darüberhinaus ein gewisse Wettkampfhärte zu. Gerüchteweise soll er Gegenspieler sogar abgegrätscht haben.
In Deutschland, dem Land der Nörgler und Besserwisser, hätte man diese Fähigkeiten gerne früher gesehen. Stattdessen erfand man für den Passspieler die abschätzige Bezeichnung "Querpass-Toni". Den jungen Kroos sah man früher beim FC Bayern nie in einer Kategorie mit Spielern wie Mario Götze oder Arjen Robben. Das war möglicherweise der Grund dafür, dass sie ihn 2014 ziehen ließen – als Weltmeister. In der Folge bildete Kroos mit den Real-Kollegen Casemiro und Luka Modric eine der besten Mittelfeldreihen, die jemals existierten. Von 2016 bis 2018 gewann Real unter Trainer Zinedine Zidane drei Mal in Folge die Champions League. Das ist im modernen Fußball keiner Mannschaft jemals gelungen.
Wenn Toni Kroos den EM-Titel gewinnt, erlangt er Götterstatus
Man mag sich gar nicht ausmalen, welchen Götterstatus Kroos auch in Deutschland erlangen sollte, wenn die deutsche Elf tatsächlich den EM-Titel gewinnt. Doch das ist noch Zukunftsmusik. Sicher ist nur: Kroos ist in den letzten Wochen seiner Karriere nicht satt. "Es wäre falsch, nicht mit dem Ziel EM-Titel anzutreten", sagte er in London Blick auf die Europameisterschaft. Man sei zwar "weit weg davon, ein Favorit zu sein. Aber es ist ein Selbstverständnis in mir: Wenn ich ein Turnier spiele, dann will ich natürlich gewinnen!"
Quellen: "Süddeutsche Zeitung", "transfermarkt.de", "ZDF Sportstudio"