Teil 6 der stern-Serie: Die WM-Stars ganz nah.
Es gibt ja viele schöne Geschichten zu erzählen in diesem Raum voller Pokale. Die Mama hat die Hände im Schoß gefaltet, den Rock übers Knie geschlagen, blaue Strümpfe in weißen Pantoffeln. Neben ihr steht der alte Fernseher, den hat Andrjuscha den Eltern geschenkt von seinem ersten Geld. Er hat ihnen später auch diese Wohnung gekauft, und die Mama hat ihm dann dieses Zimmerchen eingerichtet mit seinen alten Trophäen und den neuen Postern aus Italien. Auf einem hält er einen Ball aus Gold in die Luft. Das ist der Preis für Europas Fußballer des Jahres. Auch eine tolle Geschichte. Aber wie Andrjuscha dem Papa ein neues Leben schenkte, das ist die rührendste, und Ljubow Nikolajewna Schewtschenko kann sie nicht erzählen, ohne zu weinen.
"Ich stand am Fenster im neunten Stock dieses Hotels, Andrjuscha hatte uns diesen Urlaub auf Zypern geschenkt. Er hat ein großes Herz. Er blickte hoch zu mir, winkte und brach auf in dieses fremde Land. Dann geschah das Unglück mit dem Papa. Der Herzinfarkt! Wir konnten nicht nach Hause fliegen, Andrjuscha war weg, zum Trainingslager mit Mailand. Täglich rief er an, doch ich wusste, ich sollte nichts erzählen, er durfte nicht abgelenkt werden. Aber er hörte, dass etwas nicht stimmt. Plötzlich stand er vor der Tür und sah, wie es dem Papa ging. Er bat Silvio Berlusconi um sein Privatflugzeug. Sie flogen den Papa nach Italien, und er bekam ein neues Herz, so ist mein Söhnchen."
Ljubow Schewtschenko,
Kiew, in der Uliza Janwarskogo Wosstanija, trocknet sich die Augen, es ist nicht schwer zu erraten, von wem Andrjuscha sein großes Herz geerbt hat. Sie ist allein in der Wohnung, ihr Mann ist gerade mit Andrejs altem Mercedes zum Angeln gefahren. Man könnte jetzt natürlich sagen, dass eigentlich auch Silvio Berlusconi ihm ein neues Leben geschenkt habe. Und dass es damit zusammenhänge, dass der langjährige Ministerpräsident Besitzer des AC Milan ist, sehr mächtig, und sein Lieblingsspieler Andrjuscha schon damals, 2001, ein Kandidat für diesen Goldenen Ball war. Aber es gibt unterschiedliche Wahrheiten im Leben. Die Mama sagt ja auch: "Andrjuscha hatte das Glück, immer die Menschen zu treffen, die ihn auf den richtigen Weg führten."
Der richtige Weg ist ein großes Wort für sie. Und für ihr Land, das einst Teil der großen Sowjetunion war, in der es für alles einen Plan gab, ob er funktionierte oder nicht. Das nach deren Zusammenbruch auf Freiheit hoffte und erst mal Orientierungslosigkeit fand.
Man könnte Heldensagen erzählen von diesem begnadeten Fußballspieler. Wie dieser Bursche aus der Ukraine zum Star im Westen heranwuchs. Wie er sein Land, vor ein paar Jahren frisch gegründet, zur ersten WM schoss. Wie er das Symbol einer ganzen Nation wurde. Doch ist die Ukraine ein Land, das seine romantische Phase schon hinter sich hat. Und Andrej Schewtschenko Realist.
"Ich bin Fußballer, ich rede nicht über Politik", sagt er, Tausende Kilometer von Kiew entfernt. Er sitzt im Milanello, Trainingszentrum des AC Mailand, im Unterrichtsraum, wo die Spieler sonst Englischstunden bekommen. Auch hier gibt es viele Pokale, sie stehen oben auf den Schränken mit dem Kopierpapier, man weiß hier nicht, wohin mit all der Ehre. Vorhin hatte es ihn schon wieder erwischt. Sheva, so nennen sie ihn hier, saß vorne im Presseraum, hatte die Schultern nach vorne gezogen, die Hände im Schoß gefaltet, wie ein Schuljunge, der ein Referat halten muss. Neben ihm stand ein Fußabdruck aus Gold, in Samt gebettet, der "Golden Foot", sein aktueller Preisträger sollte zur neuen Wahl aufrufen. Er sagte: "Ein schöner Preis, weil er von den Fans kommt." Er weiß, was sie hier hören wollen. Er ist schon lang in ihrer Welt.
Sheva trägt eine beige Jacke, Jeans, von Armani natürlich, auch das ist eine Geschichte. "Wenn, dann bin ich höchstens ein Botschafter für unseren Fußball", sagt er. Aber später wird er dann doch über sein Land reden, es ist zu spüren, dass es ihn bewegt, weil einer seine Wurzeln immer mitnimmt, egal, wohin es ihn zieht.
Es sieht noch immer aus wie damals, in Obolon, der Plattenbausiedlung in Kiew, in die die Schewtschenkos zogen, als der Sohn drei Jahre alt war. Im Eingang des Hauses riecht es nach alten Kartoffeln und davor nach den Fischen vor den Ständen. Die Schule, auf die Andrej ging, liegt gleich gegenüber und daneben der Fußballplatz, auf dem früher noch zwei Tore standen. Eines ist umgefallen, jetzt müssen die Kinder ihre Jacken als Pfosten nehmen.
Es ist nicht so, dass Revolutionen von jedem sofort als Glück empfunden werden, man wird noch Menschen treffen, die ein Lied davon singen.
Alexander Spakow ist keiner davon. Natürlich, sagt er, sei es furchtbar, dass gute Trainer nach dem Zusammenbruch der UdSSR in andere Berufe wechselten. "Aber schauen Sie sich das hier an", sagt er und deutet auf ein Schloss mit Weltkugel davor, das Klubgebäude von Dynamo Kiew. Das Gelände von Dynamo ist rund 30 Kilometer von Obolon entfernt, aber irgendwie auch Lichtjahre, nach der Wende für 30 Millionen Dollar modernisiert, ein gutes Dutzend Plätze, Hallen und ein Vereinsgebäude mit Marmorböden.
Spakow ist einer der Männer, die Schewtschenkos Mutter meinte mit Glück und dem richtigen Weg. Er hat den Jungen entdeckt, als der neun Jahre alt war, der kleine Kerl war bei keiner Talentsichtung der großen Dynamo gewesen, des Klubs der Polizei, aber Spakow, Kindertrainer, schaute ohnehin immer wieder zu den Turnieren der kommunalen Dienste, der Staat war überall und Spakow auch. Da sah er den Knaben auf dem alten Platz neben der Schule. Wo immer der Ball war: Der Junge war dort. "Ich habe noch nie einen solchen Kampfcharakter bei einem Kind gesehen", sagt Spakow. Er hat fröhliche Augen, Spakow ist noch immer Kindertrainer bei Dynamo, ein Mann, der mit leiser Stimme sagt: "Die größte Niederlage eines Trainers ist, wenn ein Kind aufhört, weil ihm Fußball keinen Spaß mehr bereitet."
Es war das Jahr 1986, die Sowjetunion gab es noch, Schewtschenkos Vater war Soldat bei der Roten Armee, die Welt hatte noch ihre klare Ordnung, Regeln. In einer Offiziersfamilie zählte das viel. Es war auch das Jahr von Tschernobyl. Als die Kinder im September aus der Evakuierung zurück nach Kiew kehrten, fehlte in Spakows Mannschaft ein Junge: Andrej Schewtschenko. Spakow rief bei den Schewtschenkos an. "Andrej mag nicht mehr", sagte der Vater. Spakow wollte es nicht glauben, fuhr nach Obolon. Dort eröffnete ihm der Vater: Andrej solle auf die Militärschule, Soldat werden wie der Vater. "Auch solche Situationen muss ein Trainer meistern", sagt Spakow. Herr Schewtschenko, sagte er, wenn er Offizier werden soll, muss er kräftig werden, darum lassen Sie ihn bei uns im Training. "Vielleicht war es eine kluge Entscheidung", sagt Spakow und lächelt.
"Heute sagt sogar mein Mann, dass er froh darüber ist", sagt Ljubow Schewtschenko. Auf dem Balkon baumelt die Wäsche am Ständer. "Auch wenn er immer betont: Aber die Militärschule hätte nicht geschadet." Er war ein wilder Junge. Wenn die Familie aufs Dorf zur Verwandtschaft fuhr, war Andrej sofort auf der Straße, die anderen Kinder freuten sich, schließlich war der Bursche aus der Stadt der Einzige, der einen Ball besaß. Er war redselig, gesellig, die Mutter erzählt noch gerne die Geschichte, wie er am Strand eine halbe Stunde auf diesen georgischen Jungen einredete, obwohl der doch kein Wort verstand. "Andrjuscha", sagt die Mutter, "war sehr offen, er ist es immer noch. Er ist nicht misstrauisch. Aber deshalb musste man sich bei ihm auch Sorgen machen. Auch deshalb waren wir doch froh, dass er Fußball spielte: Da war er den ganzen Nachmittag bei Dynamo und konnte nicht unter schlechten Einfluss geraten. Es kamen ja schwierige Zeiten. Es gab bald keinen Komsomol und keine Pioniere mehr, keine Strömung für Andrej, die ihn mitnehmen konnte."
Im Milanello, vor den Toren Mailands, wo Silvio Berlusconi das modernste Fußballzentrum der Welt errichten ließ, wird es Abend. Oben im Unterrichtsraum sitzt Sheva und lächelt, als man ihm von seiner Mutter berichtet. "Soso, die Mama hat das erzählt", sagt er. "Aber es stimmt. Ich hatte einen schwierigen Weg. Ich war ein wildes Kind, ich wusste nicht, wohin mit meiner Energie", sagt er. Er hat das Gesicht eines Models und den Blick eines Abenteurers. "Und dann kam der Umbruch. Ich war ein 15-jähriger Junge, und plötzlich war mir bewusst, dass es mein Land nicht mehr gibt. Vier, fünf Jahre Chaos. Für mich waren alle Sicherheiten weg. Der Fußball war meine Rettung."
"Wenn wir nicht auf ihn aufgepasst hätten, gäbe es den Schewtschenko von heute nicht", sagt Josef Sabo. Natürlich ist Sabo stolz auf seinen Beitrag zum großen Werk, aber es sind auch die Worte eines Mannes, der weiß, was den Unterschied ausmacht, ob einer ein Großer wird oder ein Vergessener. Sabo ist gebürtiger Ungar, 1958 ging er in die Sowjetunion zu Dynamo Kiew, "ich lebe hier und ich werde bei Dynamo sterben", sagt er. Erst war er Spieler, dann Trainer, auch der Nationalelf, jetzt ist er Vizepräsident.
Sabo holte Schewtschenko
in die erste Mannschaft von Dynamo, 1994. Er sah ihn hier oben von der Tribüne aus. Der Bursche spielte im B-Team, er hatte einen Antritt, unglaublich, aus dem Stand, schnell wie ein Rennpferd, wenn der Schuss fällt. Spielte immer mit höchstem Tempo, und egal, wie schnell: Der Ball gehorchte ihm, und stellte sich ihm ein Gegner in den Weg, verlangsamte er nicht, wie das die meisten tun.
Aber auch an Schewtschenko waren die Versuchungen der neuen freien Welt nicht vorbeigegangen. Das ließ sich messen, wie man hier nach alter Sowjetschule nach wie vor alles zu messen versuchte. Vor dem Training nahmen die Ärzte immer den Blutdruck der Spieler, um Fitness und Lebenswandel zu überprüfen, manchmal hatte Schewtschenko 170 zu 100, durfte nicht trainieren, weiß der Teufel, was er am Vorabend wieder veranstaltet hatte. Sabo sagt nur: "Er war beeinflusst von schlechten Menschen." Über Details will er nicht reden. Aber die Mutter erzählt, ihr Sohn sei einfach zu gutmütig gewesen, ein lebenslustiger Kerl, als 18-Jähriger wie als Kind. Und nun der Einzige unter den Jugendlichen, der Geld besaß, weil er Fußballspieler war, das lockt Freunde an. Und Geld und Möglichkeiten, es auszugeben, waren neu in dieser Welt.
Sabo verbot ihm, sich außerhalb des Platzes mit gewissen Spielern zu treffen, die er für schlechte Vorbilder hielt. Er nahm ihm den Autoschlüssel ab, nachdem Schewtschenko einmal auf dem Weg zum Training auf holpriger Straße an ihm vorbeigerast war. "Letztlich hat Andrej auf uns gehört. Er hat ein großes Herz, er ist ein weicher Mensch, wie ein Stück Brot. Wir konnten ihn formen", sagt er. Formen ist ein Wort aus seiner Zeit.
Sabo sitzt in der VIP-Loge im Lobanowski-Stadion, sein Büro ist zu klein für ein Interview, nicht größer als eine Besenkammer. Man wird ahnen, wie viel die alten Sowjethelden heute noch zählen, wenn man später im edlen Büro von Igor Surkis sitzt, dem Klub-Präsidenten, einem Mann der neuen Ukraine. "Aber natürlich hat Andrej sich das alles zuletzt selbst erarbeitet. Er ist bereit zu lernen, und er hat diese unglaubliche Bioenergie", sagt Sabo. Es hört sich esoterisch an, doch Dynamo Kiew ist berühmt dafür, aus dem unberechenbaren Spiel eine Wissenschaft zu machen, alles zu studieren, zu erforschen und zu berechnen. Walerij Lobanowski, der wortkarge Oberst, brachte das in den Verein. 2002 starb er nach einem Schlaganfall, "auf einer Trainerbank", sagt Sabo und deutet runter zum Platz.
Lobanowski machte Dynamo Kiew Ende der Neunziger wieder berühmt und Schewtschenko groß. In der Champions League schaffte es Kiew 1999 bis ins Halbfinale, schlug Real Madrid, die Mannschaft spielte wie eine Maschine, ihr Fußball war exakt konstruiert. 300 Tage im Jahr verbrachten sie in Trainingslagern. Lobanowski baute ein Wissenschaftlerteam auf, zehn Leute, nur um Spiel und Training zu analysieren, jeder Schritt wurde erfasst, und Arbeit war das höchste Gebot auf dem Platz. Das war die Schule, durch die Schewtschenko ging, noch heute läuft er selbst an schlechten Tagen mehr als die meisten auf dem Feld.
"Andrej", sagt Sabo, "ist ein Sowjetspieler, ein Dynamomann, man merkt das immer noch." Er blickt aus dem Fenster. "Auch wenn er jetzt bei Milan nur die Juweliersarbeit macht: Tore schießen." Es reicht für 28 Treffer in dieser Saison. Es reicht für zehn Millionen Euro Gehalt im Jahr, eine Villa am Comer See, die aussieht wie ein kleines Schloss, zwei Armani-Boutiquen in Kiew, wo es mittlerweile Leute gibt, die sich eine Jeans für 300 Euro leisten können. Die Welt hat sich weitergedreht, und Sabos einstiger Schüler läuft jetzt sogar als Model für seinen Freund Giorgio Armani über den Steg.
"Verstehen sie mich nicht falsch", sagt Sabo. "Andrej ist ein großartiger Mensch, aber ich begreife diese Sachen nicht: Werbung zu machen, auf Empfänge zu gehen, das ist kein Fußball." Früher, sagt Sabo, sei Andrej zufrieden gewesen, dass er als Spieler Freikarten fürs Theater hatte. "Heute verdienen selbst die Jungen bei Dynamo schon 100 000 Dollar. Und sie glauben, sie müssten nicht mehr trainieren, weil sie ja schon reich sind. Es ist schwer, dem Volk zu erklären, warum ein Rentner, der sein Leben lang gearbeitet hat, nun arm ist, und warum ein 21-Jähriger jetzt Mercedes fahren kann, weil er gut Fußball spielt. Der Neid ist groß geworden in unserer Gesellschaft."
Das ist der Kampf
in diesem Land: Die neuen Chancen zu nutzen mit den alten Fähigkeiten. Aber zugleich damit zu leben, dass die alten Ungerechtigkeiten neuen Ordnungen gewichen sind, die man auch als ungerecht empfinden kann. Dass es früher Mächtige und Ohnmächtige gab. Und heute Gewinner und Verlierer.
"Andrej hat einen Kampf mit sich ausgefochten", sagt Igor Surkis, "und er hat ihn für sich gewonnen." Surkis ist ein Mann, der sich auskennt mit dem Kämpfen und mit dem Gewinnen. Er ist Präsident von Dynamo Kiew. Eigentlich war auch ein Gespräch mit seinem Bruder Grigorij Surkis vorgesehen, aber der habe keine Zeit, hieß es. Grigorij ist Hauptaktionär des Vereins. Er ist einer der reichsten Männer der Ukraine, gehörte zu den "glorreichen Sieben", den Oligarchen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Besitztümer Kiews unter sich aufteilten. Die Platitude, dass Fußball ein Sinnbild für das Leben ist, gilt natürlich auch hier: Auch außerhalb des Platzes gewannen jene, die die neuen Chancen mit alten Möglichkeiten nutzen. In der Sowjetunion war Surkis Amtsleiter der Baubehörde, nach der Wende wurde die privatisiert - und heute ist er einer jener Männer, die man in Milliarden misst, keiner kann genau sagen, woher sie kommen. Es gibt ein Sprichwort in der Ukraine: Ich kann dir von all meinen Millionen sagen, wie ich sie gemacht habe, bis auf die erste.
Igor, der kleine Bruder,
ist ein Mann ohne Mimik. Er spricht freundlich und höflich, aber wenn man mit ihm redet, in seinem großen Büro am edlen schwarzen Tisch zwischen Ledersesseln und Gemälden, merkt man, warum der Fußball als Sinnbild doch nicht ganz taugt. Warum uns etwas im Spiel Vergnügen bereiten kann und im Leben ein Schaudern. Warum man im Fußball die Vollstrecker liebt, aber im echten Leben nicht. Warum einem Schewtschenko sympathisch erscheint, aber nicht die Art, wie Surkis von ihm schwärmt.
"Andrej geht seinen Weg bis zum Schluss, bis er sein Ziel erreicht", sagt er. Aus der offenen Tür zum Hinterzimmer ist der Fernseher zu hören. "Er gibt sich absolut seiner Aufgabe hin." Natürlich habe er Schwierigkeiten gehabt wie alle seiner Generation. "Er war ein Produkt der Sowjetunion, und auf einmal gab es Diskos, Bars, Casinos. Aber weil er diesen Kampf mit sich in seiner Jugend ausgefochten hat, bekam er später, als er in den Westen ging, keine Probleme mit dem Lebensstil wie so viele Spieler aus dem Osten." Wie Igor Belanow, einst Europas Spieler des Jahres, Europapokalsieger, der als promillestarker Drittligaspieler bei Eintracht Braunschweig endete. "Andrej hat auf uns gehört. Er ist wie ein Schwamm, er saugt alles auf", sagt Surkis, "heute weiß er unseren Einfluss zu schätzen. Andrej ist ein Ehrenmann." Es gibt Leute, die sagen, das Wort Ehre habe eine eigene Bedeutung bei Männern wie Surkis, man kennt das aus Italien. "Er schätzt Freundschaft, und er verrät nicht."
Als 2004 die Wahlen in der Ukraine anstanden, richtete auch Schewtschenko eine Botschaft ans Volk: Ein Sieg der alten Machthaber wäre gut für den Fußball. Als bekannt wurde, dass das Ergebnis der Wahl gefälscht war, brach die Orange Revolution aus. Die Wiederholung verlor Schewtschenkos Kandidat Janukowitsch, der Mann der mächtigen Oligarchen, der Partei von Grigorij Surkis. Seitdem redet Schewtschenko nicht mehr über Politik.
"Andrej ist damals nur falsch interpretiert worden", sagt Igor Surkis. Andere sagen, er habe sich einfach zum Instrument machen lassen, dieser gutmütige Kerl. Seine Worte hatten ohnehin nicht viel bewegt. Die Menschen in diesem Land trauen schon lange niemandem mehr. Bei den letzten Wahlen stellte die OSZE keine Betrügereien mehr fest, aber im Volk redet man dennoch von Fälschungen. Und die Sportidole? Vitali Klitschko, großer Ex-Boxweltmeister, scheiterte bei den Bürgermeisterwahlen von Kiew. Sport gilt als korrupt wie alles im Land. Igor Surkis machte sich international einen Namen, als er versucht haben soll, vor einem Champions-League-Spiel den Schiedsrichter mit Pelzmänteln und 30 000 Dollar zu bestechen. Er bestreitet das natürlich.
"Es gibt in diesem Land Kräfte, die andere mit unbewiesenen Dingen kompromittieren wollen", sagt er. "Sehen Sie, unsere Demokratie ist jung, es gibt einen großen politischen Kampf." Sein Blick ist unergründlich, nicht freundlich, nicht böswillig, nur hart und fest. "Aber deswegen ist Andrej so wichtig für unser Land. Er ist ein besserer Botschafter als alle Diplomaten. Die Regierung sagt, sie will nach Europa: Andrej ist schon dort."
Die Surkis-Brüder haben ihm den Weg dorthin geebnet. Der Vertrag mit Milan wurde per Handschlag zwischen Berlusconi und Grigorij Surkis besiegelt, 1999. Manchester und Juventus Turin hätten mehr geboten, aber man sei sich sicher gewesen, dass Milan der richtige Verein für Schewtschenko ist. Und Berlusconi und die Surkis-Brüder sind mittlerweile gute Freunde. "Milan ist eine Familie, so wie wir eine Familie sind", sagt er zum Abschluss. Man verabschiedet sich, die Gäste bekommen einen Wimpel, der Fernseher läuft noch immer im Hinterzimmer. Beim Rausgehen wirft die Dolmetscherin einen Blick in den Raum. Grigorij Surkis, der große Bruder, sitzt darin, er hat das Gespräch verfolgt.
Milan war nicht die schlechteste Wahl für Schewtschenko, mag man das Wort Familie auslegen, wie man will. Dieser Klub hat ihn zum Weltstar gemacht. Schewtschenko weiß das. Auch wenn jetzt vielleicht der zweite Abschied seiner Karriere ansteht, und er Mailand bald verlassen wird. Als er in der vergangenen Woche zum ersten Mal von Wechselgedanken sprach, redete er fast entschuldigend von seiner Liebe zu Milan, aber dass er sich neu orientiere, Sheva, der Treue. Der FC Chelsea könnte sein nächster Verein werden, wieder eine Familie mit mächtigem Patriarchen, dem russischen Milliardär Abramowitsch. Er dürfte sich wohl fühlen dort, und sein Abgang könnte den Mailändern 38 Millionen Euro bringen.
Sie haben es nie bereut, ihn geholt zu haben. Und sie hatten damals lange gebraucht, sich zu entscheiden. Fast drei Jahre beobachteten sie den Spieler, erzählt Rezo Choconelidze, ein stiller Georgier, ein ernsthafter Mann mit akkuratem Seitenscheitel. Er arbeitet als Scout für Milan. Über die sportlichen Fähigkeiten des Spielers bestanden keine Zweifel. Sein Trainer Lobanowski, wahrlich kein Schaumschläger, hatte schon damals gesagt, er sei besser als Ronaldo. Als Choconelidze das erzählt, springt er auf und zeichnet auf den Flipchart ein Spielfeld, macht im Strafraum vier Kreuze direkt nebeneinander auf derselben Höhe: "Ronaldo". Dann macht er ein Kreuz in der Mitte des Spielfeldes. Von dort Pfeile nach hinten, nach vorne, direkt zum Tor, zur Eckfahne hinaus, überallhin: "Schewtschenko". Er lächelt: "Du siehst ihn eben noch an der Mittellinie, drehst dich einmal kurz um, und schon ist er im Strafraum und macht das Tor."
Dennoch hatte Choconelidze eine schwere Aufgabe. Schewtschenko kostete 25 Millionen Dollar Ablöse, der bis heute teuerste Transfer aus Osteuropa. Choconelidze überprüfte alles, sprach mit den Trainern, der Familie, den Freunden, es war Detektivarbeit, Milan durfte keinen Fehler machen, es sollte nicht ein weiterer Mann aus Osteuropa sein, der im Westen untergeht. Sie bereiteten Schewtschenko fünf Monate vor, "psychologisch", sagt Choconelidze: Sprachunterricht, Lebensart, schickten ihn mit Maldini, Costacurta, Ambrosini zum Spaghettiessen. Kaum ein Klub in Westeuropa ist straffer organisiert als Milan. Der Bursche lernte zu leben wie ein Italiener und trainierte weiter wie ein Dynamospieler, nach dem Training Sondereinheiten, 7-mal 50 Meter Sprints, hin und her, unter einer Minute, die Mitspieler schüttelten nur den Kopf. Als Schewtschenko vor der Saison Berlusconi vorgestellt wurde, sagte der: "Mach dir keine Sorgen, du wirst 10, 12 Tore schießen und alles ist gut. Und wenn du 18 schießt, schenke ich dir eine Yacht." Schewtschenko schoss 24, noch nie hatte in Italien ein Ausländer in seiner Debütsaison häufiger getroffen. Statt der Yacht gab es eine Kreuzfahrt, aber dem Verhältnis zu Berlusconi hat es nicht geschadet, und Schewtschenkos Zukunft auch nicht. Man hatte ihn auf den richtigen Weg geführt, wie die Mama sagen würde.
Es wird Abend
im Milanello. Das Klubgebäude gleicht einer mexikanischen Hazienda, drinnen gibt es ein Kaminzimmer, im Billardraum wartet gerade die Verwandtschaft von Clarence Seedorf darauf, dass er vom Training kommt, das hat in der Tat etwas Familiäres. Oben spricht Schewtschenko doch noch von der Heimat. Er wird bei der WM als Kapitän der Ukraine auflaufen, auch wenn er zurzeit eine Knieverletzung auskurieren muss, es wird ein Ereignis, das die Menschen kurz von der Politik ablenkt. "Natürlich herrscht totales Chaos in meinem Land", sagt er. "Aber das wahre Problem liegt darin, dass man Geduld braucht. Weil man die Dinge nicht sofort ändern kann. Eine Rechtsgrundlage, eine Verfassung, Arbeitsplätze schaffen, Renten sichern - es ist schwer. Nach 70 Jahren Kommunismus sind diese Probleme wohl normal." Er blickt nachdenklich, der entschlossene Vollstreckerblick kann sehr sanft werden.
Er ist vorsichtig bei dem, was er sagt. Er will nicht der Schnösel sein, der vom fernen Italien über sein Land richtet. Er weiß, dass er kein politischer Kopf ist, kein Intellektueller, sondern ein Fußballspieler, der die Schule am liebsten mit 15 beendet hätte, der ungern Zeitung liest, dem es egal ist, welche Politik oder Geschäfte Berlusconi und Surkis machen, er hat diesen Männern viel zu verdanken.
Aber es ist ihm nicht egal, was in seinem Land passiert. Drei Kinderheime unterstützt er in der Ukraine. Die ihn kennen, sagen, es sei eine Herzensangelegenheit. "Reden Sie mit ihm nicht über leidende Kinder", sagt die Mutter, "da kommen Andrjuscha schnell die Tränen." Aber viele Menschen sagen auch, er sei einfach nur ganz weit weg, dieser Mann, der mit Berlusconis Privatflugzeug zu Länderspielen kommt, seinen eigenen japanischen Masseur mitbringt, der ein Model geheiratet hat.
Sheva spricht mit sanfter, heller Stimme. "Die Leute haben Recht, natürlich bin ich weit weg für die Menschen meiner Heimat. Ich lebe seit sieben Jahren in Italien, meine Frau Kristen ist Amerikanerin, meine Basis hat sich verändert, auch wenn ich mich noch immer als Ukrainer fühle", sagt er. Er blickt aus dem Fenster, auf dem Kunstrasenplatz ist die Landefläche für Berlusconis Hubschrauber. Berlusconi ist Taufpate von Schewtschenkos Sohn Jordan. Die große Milan-Familie halt, in Kiew hat die Mutter erzählt, wie unterhaltsam Berlusconi bei der Taufe war, damals noch Ministerpräsident von Italien, wie er sang und Witze machte.
Sie saß auf der Couch und sagte: "Sie mögen Andrjuscha vielleicht Zwezda nennen, einen Star, aber er ist noch immer mein kleiner, lieber, naher Junge." Sie sagte, wie froh sie sei, wieder nach Kiew zurückgekehrt zu sein, wo sie am Wochenende nach Dwirkiwschyna fahren kann, in das kleine Dorf, aus dem die Familie stammt, wo sie ein Häuschen haben, mit Garten und Blumenbeet. Der Sohn hatte die Eltern und die Schwester anfangs zu sich nach Mailand geholt, in der Via Marina einquartiert, wo um die Häuser meterhohe Zäune stehen und auf den Klingelschildern nur Nummern sind, weil großer Reichtum auch hier ungern seinen Namen zeigt. Andrjuscha vermisse sein Dorf und die Mama auch, sagte sie, das wisse sie. Aber ob er mal zurückkehren will, hier in die alte Welt, in der alles durcheinander gewirbelt wird? Die Frage habe sie ihm nie gestellt.
Mitarbeit: Lena Perepadya, Luisa Brandl